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Lernen – gewusst, wie «Funktionen, die man nicht benutzt, verkümmern»

Navigationssysteme und andere Hilfsmittel erleichtern unseren Alltag. Doch Skeptiker befürchten, dass sie Fähigkeiten junger Menschen verkümmern lassen. Wie Manfred Spitzer, Autor des Buches «Digitale Demenz»: Im Gespräch plädiert er dafür, digitale Medien erst ab einem gewissen Alter zuzulassen.

Zur Person

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Manfred Spitzer, Jahrgang 1958, ist Mediziner und Psychologe. Er arbeitet als ärztlicher Direktor an Psychiatrischen Uniklinik in Ulm. Öffentlich bekannt wurde er durch Vorträge und populärwissenschaftliche Bücher wie «Digitale Demenz». Seine Thesen zu Folgen des Konsums elektronischer Medien sind unter Wissenschaftlern zum Teil umstritten.

«Einstein»: Herr Spitzer, ich habe mit dem Navigationssystem wunderbar zu Ihnen gefunden. Muss ich mir Sorgen um mein Orientierungsvermögen machen?

Manfred Spitzer: Ich gehe davon aus, dass Sie mitgedacht haben und nicht einfach der Stimme blind gefolgt sind. Auch ich benutze ein Navi. Aber wenn man mit-navigiert, benutzt man sein «gehirneigenes» Navi. Und so lange das der Fall ist, muss man sich auch keine Sorgen machen.

Offenbar gibt es aber viele Leute, die das nicht tun. Lassen uns diese Geräte verblöden?

Sie nehmen uns geistige Arbeit ab. Wir haben im Gehirn ein eigenes Navi, den Hippocampus. Vom Gehirn ist nachgewiesen, dass es mit seinen Aufgaben wächst. Und wenn man sein Gehirn weniger benutzt, dann arbeitet es langfristig nicht mehr so gut.

Sie stehen der Verwendung von Computern generell kritisch gegenüber.

Ja, denn Computer nehmen uns geistige Arbeit ab. Wenn junge Menschen nur noch mit dem Taschenrechner rechnen, verlernen sie das Kopfrechnen – das kennt jeder. Funktionen, die man nicht benutzt, verkümmern.

Vielleicht brauchen wir gewisse Funktionen des Gehirns schlicht nicht mehr…

Das Gehirn von jungen Menschen muss sich zuerst einmal entwickeln, damit sie es als Erwachsene für alles Mögliche gebrauchen können. Ein Gehirn, das auf die Welt kommt, muss noch alles lernen: Laufen, Sprechen, die Welt und die Dinge, sich benehmen und so weiter. Dies geschieht nur durch die Benutzung des Gehirns, so bildet es sich. Diese Gehirn-Bildung setzt eben voraus, dass wir Prozesse nicht auslagern.

Vor zweihundert Jahren, als die ersten Wegweiser kamen, hat es schon ähnlich getönt. Trotzdem gibt es uns noch.

Neue Entwicklungen können positiv oder negativ sein, und oft dauert es lange, bis man dies entscheiden kann. Als vor 100 Jahren die Autos kamen, hat man sich auch überlegt: Wie gehen wir damit um? Ich glaube, im Umgang mit den digitalen Medien wird das ähnlich sein: Wir werden irgendwann sagen, dass wir ein Verantwortungsbewusstsein voraussetzen müssen, das eben noch nicht jeder hat – und das könnte uns veranlassen, den Kontakt zu diesen Medien erst nach erfolgreicher Kindheit und Jugend ohne Medien zuzulassen.

Wie flexibel ist unser Gehirn?

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Die Fähigkeit unseres Gehirn, sich an Aufgaben anzupassen, bezeichnet man als neuronale Plastizität. Veränderungen können auf der Ebene einzelner Nervenzellen stattfinden, indem zum Beispiel mehr Signale mit anderen ausgetauscht werden. Zudem können sich ganze Hirnareale wandeln: Neben der Grössenänderung können sie auch neue Aufgaben übernehmen.

«Analoge Ignoranz» kann aber auch nicht die Lösung sein. Ist die Frage nicht eher, wie man diese Geräte verwendet?

Wenn man weiss, dass digitale Geräte die Gehirnentwicklung beeinträchtigen, dann ist eigentlich nicht die Frage, wie viel davon? Alkohol beeinträchtigt auch die Gehirnentwicklung, macht auch süchtig, ist auch Teil unserer Kultur. Deswegen trauen wir erst den 16 oder 18-Jährigen, deren Gehirn sich lange genug entwickelt hat, zu, selbst zu entscheiden, ob sie Alkohol trinken. Wir sagen nicht: «So früh wie möglich schon daran gewöhnen» – aber genau das machen wir bei den digitalen Medien. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir damit einen Fehler machen.

Ist das im Jahr 2014 nicht ein Kampf gegen Windmühlen?

Die Menschheit ist immer mit neuen Innovationen klar gekommen. Und ich hoffe, wir werden auch bald lernen, mit den digitalen Medien besser umzugehen, um deren Risiken und Nebenwirkungen zu minimieren. Wir dürfen die Gehirne unserer Kinder nicht dem Profitstreben einer weniger US-Firmen überlassen, die noch mehr Geld verdienen wollen. Wenn wir jetzt digitale Medien schon in die Schulen und Kindergärten hineinbringen, dann tun wir unseren Kindern und deren Gehirnen nichts Gutes.

Lesen Sie hier die Replik von Medienpsychologe Daniel Süss: «Digitale Medien: Nicht generell gut oder schlecht»

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