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Mensch «Dieses Verspielte noch mehr auf die Spitze getrieben»

Barock – das war auch üppiges Gipsdekor an Wänden und Decken: Ranken, Putten, Muschelformen. Die Zeiten solcher Dekorationen sind vorbei – gottlob, wie manche heute meinen. Damals nicht: Der Stuck-Boom ernährte im Tessin viele Kunsthandwerker-Familien.

Einst hatte das Handwerk goldenen Boden, doch heute? Stuckateur-Handwerker alter Schule, sagt Marco Brand, gibt’s kaum noch in der Schweiz. Als er den Beruf des Gipsers lernte, interessierte er sich schnell für die kunstvollen Wandskulpturen. Und was ihm sein seliger Berufsschullehrer nicht mehr vermitteln konnte, brachte er sich – nun ja, halt selber bei.

Video
Kopfskulptur aus der Gussform holen (E. Dantas)
Aus Einstein vom 13.10.2014.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 16 Sekunden.

Zum Beispiel, wie aus einer Idee eine Skulptur wird: Eine Zeichnung des Architekten dient als Grundlage für einen ersten Entwurf in modelliertem Ton. Entspricht das Modell schliesslich den Wünschen, überzieht es der Stuckateur mit elastischem Silikon. Nach einer Weile wird diese «Haut» abgenommen – und dort hinein wird zuletzt der weiche, fast flüssige Stuckgips «gegossen».

Kundschaft mit Faible und Geld

Als Spezialist für solche Arbeiten besetzt Brand seit 1991 seine Nische: Grossaufträge sind zwar rar, doch auch mit üblichen Arbeiten verdient er genug zum Lebensunterhalt: mit eleganten Eckgesimsen, verzierten Säulen, erzählt er, oder eben mit «den bekannten Rosetten dort, wo die Kronleuchter an den Decken hängen».

Seine Kunden? Mal wohlhabende Wahlschweizer aus dem arabischen Raum, mal edle Hotels, mal Erben einer Industriellen-Villa. Oder andere Zeitgenossen, die über den entsprechenden Geschmack, die Wertschätzung und die Mittel verfügen – so wie seinerzeit jene kirchlichen und weltlichen Herrschaften in der Barock-Epoche, die dem Stuckhandwerk zu einer Blütezeit verhalfen.

Als Stuckateure durch die Lande

Auch aus der Schweiz schwärmten kunstfertige Handwerker nach ganz Europa aus, um Paläste, Klöster und Kathedralen mit Stuck zu schmücken – vor allem aus dem Tessin. Überdauert hat nur der Ruhm von wenigen: zum Beispiel von Francesco Pozzi, Jahrgang 1704, aus dem Tessiner Dörflein Bruzella, der auszog, um im Dom von Arlesheim Altar und feine Stuckaturen auszuführen – mit seinen Söhnen Guiseppe und Carlo. Für die Familie war dieses Handwerk quasi Muttermilch: Pozzis Grossvater, ein Grossonkel und ein Onkel – alles Stuckateure.

Ein Gemälde-Porträt des Tessiner Stuckateurs Francesco Pozzi.

So wurden Wissen und Fertigkeiten über Generationen überliefert – nicht nur bei im Clan der Pozzi, sondern auch in Familien wie den Brenni, Polli, Castelli und wie sie alle hiessen. Von ihrem technischen und künstlerischen Knowhow, so Marco Brand, ist leider kaum etwas erhalten. Das damalige Wissen, sagt er, «das haben die Stuckateure mit ins Grab genommen.»

Zwar wird der Alabastergips für Stuck seit jeher lange gebrannt, damit er mehl-fein und gut formbar wird. Und seit jeher dienen Fasern wie grobes Jutegewebe oder Sisalfäden als «Armierung» im Inneren von grösseren Strukturen. Doch im Detail hat jeder seine Berufsgeheimnisse: von künstlerischen Kniffen bis zu ausgetüftelten Verfahren, um flott mit dem Material zu arbeiten. Und die werden ungern preisgegeben. «Das ist eigentlich noch heute so», erzählt Brand, «es ist fast unmöglich, in eine fremde Werkstatt hineinzukommen.»

Barockes Erbe – zeitgenössisch interpretieren

Offensichtlich sind dagegen gestalterische Eigenheiten; etwa der Stil, durch den sich italienische und Tessiner Stuckateure damals von den deutschen unterschieden. Symmetrien mieden sie bei ihren Arbeiten – typisch barock – zwar alle, doch während die deutschen Handwerker weniger ausgeschmückt und eher strukturiert zu Werke gingen, waren die Arbeiten der Südländer feingliedriger und detaillierter. «Die haben dieses Verspielte noch mehr auf die Spitze getrieben», sagt der Stuckateur.

Und heute? Sind Rocaillen, Voluten oder – Gott bewahre! – Putten für alle Zeit als Kitsch in Gips verschrien? Nein, nein, sagt Marco Brand – doch wenn ein Kunde etwas allzu Üppiges von ihm wolle, so gesteht er, rät er doch dazu, gestalterisch ein wenig auf die Bremse zu treten. «Ein Wohnzimmer wie im Schloss Versailles ist für Schweizer Verhältnisse doch etwas zu viel», sagt er, «da fallen die Gäste dann ja ins Koma.» Doch tot ist der Barock für ihn deshalb noch nicht. «Man kann so etwas auch gut in abgeschwächter Form machen», setzt er hinzu, «oder anders gesagt: zeitgenössisch interpretiert.»

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