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Mensch Intensivmedizin für Frühgeborene: Wie viel ist zu viel?

War es früher eine Frage des Könnens, ist es heute eine Frage des Dürfens: Wie viel Leiden dürfen Ärzte einem extrem früh geborenen Kind zumuten? Wie viel Behinderung dem Erwachsenen, der es vielleicht einmal wird – und wie viel Belastung seinen Eltern? Die Neonatologie stösst an ethische Grenzen.

Frühestgeborene

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Frühest geborene Kinder kommen 12 bis 16 Wochen zu früh auf die Welt: oft nur wenige hundert Gramm schwer, unfähig zu atmen, ihre Körpertemperatur zu halten und zu trinken. In der Schweiz sind jährlich rund 300 Kinder von diesen Leiden betroffen. Intensiv-Medizin ermöglicht es immer mehr von ihnen zu überleben.

Die Grenzen der medizinischen Diagnostik verunsichern nicht nur die Eltern von frühest geborenen Kindern. Auch für Ärztinnen und Ärzte wird es immer schwieriger, die Argumente für oder gegen eine Intensiv-Behandlung gegeneinander abzuwägen. Denn die Belastung für die Kinder gross. Und die Diagnose, ob sie später mit schwersten Behinderungen leben müssen, oft unsicher.

Brigitte Tag, Medizinjuristin- und Ethikerin an der Universität Zürich, und Hans Ulrich Bucher, bis Ende Februar Chefarzt der Neonatologie am USZ, arbeiten an diesem Thema und haben kürzlich eine Fachveranstaltung organisiert. Im Interview für die Sendung «Kontext» nehmen die beiden Fachleute Stellung zu diesem schwierigen Thema.

Katharina Bochsler: Hans Ulrich Bucher, nehmen Sie uns mit auf einen imaginären Rundgang durch die neonatologische Intensivstation. Die Kinder die hier liegen, bezeichnen Sie als «unreif»: Was fehlt diesen Babys?

Hans Ulrich Bucher: Die Kinder sind ja bereits kurz nach der ersten Schwangerschaftshälfte zur Welt gekommen. Praktisch keines ihrer Organe ist zu diesem Zeitpunkt bereit für ein eigenständiges Dasein. Die Mutter nimmt dem Kind in der Schwangerschaft viel ab. So früh auf die Welt geworfen, sollte es nun plötzlich alles selber machen: Atmen, verdauen, ausscheiden, seine Körpertemperatur regulieren. Aber das kann ein Kind, das so früh in die Welt geworfen wurde einfach noch nicht.

Warum werden in der Schweiz immer mehr Kinder extrem früh geboren?

Bucher: In den industrialisierten Ländern und damit auch in der Schweiz nimmt die Zahl der Frühestgeborenen moderat zu. Das liegt einerseits daran, dass Frauen immer später Kinder bekommen. Zudem werden immer mehr Frauen, die früher keine Kinder bekommen hätten, heute dank der modernen Fruchtbarkeitsmedizin schwanger. In beiden Gruppen kommt es zu überdurchschnittlich vielen Risikoschwangerschaften und diese haben häufig eine Frühgeburt zur Folge.

Vor nicht allzu langer Zeit hat man diese Kinder auf die Fensterbank gelegt, damit sie dank Sauerstoff und Licht überleben oder gegebenenfalls auch schneller sterben können. Heute liegen diese Kinder umgeben von vielfältiger Technik, künstliche beatmet und ernährt, warmgehalten in der Isolette. Die Überlebens-Chance ist dank der Intensiv-Medizin deutlich gewachsen. Brigitte Tag, was ist für Sie als Medizinjuristin und Ethikerin das drängendste Problem im Zusammenhang mit der Intensiv-Behandlung dieser Frühestgeborenen?

Brigitte Tag: Die drängendste Frage ist sicher die: Was soll man machen und was unterlässt man besser? Nicht alles, was medizinisch machbar ist, muss auch gemacht werden. Die medizinische Behandlung sollte sich individuell am jeweiligen Kind orientieren, an dessen Entwicklung und Chance zu überleben. Der Entscheid, der zusammen mit den Eltern gefällt wird, sollte in jedem Fall auch deren Hintergrund berücksichtigen. Denn sie werden das Kind später in der Familie haben und es – egal, ob es gesund oder stark behindert ist – grossziehen. All diese Faktoren muss man diskutieren.

Audio
Ethische Grenzen in der medizinischen Behandlung Frühstgeborener
aus Kontext vom 16.04.2014. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 28 Minuten 17 Sekunden.

Nun suchen immer mehr Ärztinnen und Ärzte Rat bei nicht-ärztlichen Fachleuten wie Ihnen. Worauf basieren denn Ihre Empfehlungen als Nicht-Medizinerin?

Brigitte Tag: Ich bin Juristin. Meine Entscheidungen basieren natürlich auf dem Recht. Nach der Bundesverfassung hat das Kind ganz klar eine Würde und ein Recht. Weil das Kind noch sehr hilflos ist, müssen seine Rechte ganz besonders geschützt werden. Mir liegt am Herzen, dass die Rechte des Kindes und damit das Kind und sein Wohl gewahrt werden. Rechte und Wohl des Kindes sollten die Grundlage sein, wenn die Eltern zusammen mit dem medizinischen Personal und Vertretern anderer Disziplinen über seine Zukunft entscheiden.

Hans Ulrich Bucher: Ich möchte hier gern noch etwas anfügen, warum es für uns Ärzte so wichtig ist mit Ethikern und Juristen ins Gespräch zu kommen. Früher war der Klinikdirektor verantwortlich für alle Entscheide. Irgendwie hatte ich immer das Gefühl, mit einem Bein im Gefängnis zu stehen. Denn wir trafen und treffen unsere Entscheidungen häufig nicht auf der Grundlage harter Kriterien, sondern aufgrund von Annahmen und Vermutungen. Das Ergebnis heisst dann Leben oder Tod. Ein Beispiel: 1982 haben wir in Zürich beschlossen, dass wir auch Kinder künstlich beatmen, die weniger als 1000 Gramm schwer sind. Vorher war klar, wenn ein Kind mit einem Gewicht unter 1000 Gramm nicht selber atmen konnte, war es dem Tod geweiht. Wir haben es betreut und sterben lassen. Diese 1000 Gramm waren eine klar definierte Grenze. Heute ist es aber viel schwieriger. Es gibt nicht mehr so klar gezogene Grenzen.

Sie orientieren sich aber auch heute immer noch an gewissen Richtwerten. So werden heute in der Schweiz Kinder, die vor der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen, in der Regel nicht künstlich beatmet. In ihren Entscheiden unsicher sind Mediziner vor allem bei Kindern, die in der 24. Und 25. Schwangerschaftswoche geboren wurden. Hier ist die Prognose, ob ein Kind überlebt und wenn ja, ob es gesund oder schwer behindert überlebt, höchst unsicher. Brigitte Tag, wie ist Ihnen als Ethikerin und Juristin angesichts solcher Richtwerte und prognostischen Grauzonen zumute?

Brigitte Tag: Feste Grenzen nützen hier nichts. Man kann nicht sagen, ab dieser oder jener Schwangerschaftswoche unterstützen wir das Kind, vorher machen wir nichts. Es muss eine Bandbreite geben. Die Empfehlung, vor der 24. Schwangerschaftswoche nicht künstlich zu beatmen, lässt ja Abweichungen zu. Das heisst, sollte ein Kind sehr gut entwickelt sein, dürfen die Ärzte es trotzdem beim Atmen unterstützen. Man ist bei einem extrem früh geborenen Kind deshalb vorsichtig beim Einsatz von Intensiv-Medizin, weil man es nicht zum Forschungsgegenstand machen möchte. Genau das tut man aber, wenn man es therapiert, obwohl von vornherein klar ist, dass es nicht überleben wird. Es dürfen allerdings nicht nur die Ärzte allein bestimmen, wie gross die Bandbreite des Entscheidungsraums sein soll. Auch die Eltern haben hier etwas zu sagen. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Kind nur mit schwersten Behinderungen überleben wird. Während für die einen Eltern eine solche Situation aus emotionalen oder finanziellen Gründen nicht zu bewältigen ist, entscheidet sich eine andere Familie bewusst für das Kind, weil sie über die nötigen Ressourcen verfügt. Solche grossen Entscheidungen kann man nur gemeinsam treffen.

Hans Ulrich Bucher: Für uns ist allerdings die häufigere Konstellation jene, dass wir Ärzte dem Kind noch eine Chance geben möchten. Während die Eltern aus Angst vor einer Behinderung das Kind lieber sterben lassen würden. Dann wird es sehr schwierig für uns.

Brigitte Tag: Eines ist klar: Das Kind ist nicht Eigentum der Eltern. Eltern dürfen nicht unter jeder Bedingung über Leben und Tod des Kindes entscheiden. Wenn das Kind trotz möglicher Behinderung eine gute Überlebens-Chance hat, die Eltern aber keine medizinische Unterstützung möchten, müssen Ärzte, Ethiker oder auch Religionsvertreter mit ihnen sprechen. Im Extremfall muss man ihnen das Sorgerecht entziehen und einen Beistand für das Kind einsetzen. Denn das Kind hat prinzipiell ein Lebensrecht. Doch – um es noch komplizierter zu machen – es kommt auch darauf an, wie gross die zu erwartende Behinderung sein wird. Eine Behinderung kann eben auch so schwer sein, dass sie mit dem Kindeswohl kaum noch vereinbar ist. Bevor wir aber eine solche Entscheidung treffen, brauchen wir dann aber sehr verlässliche Angaben, wie wahrscheinlich eine derart schwere Behinderung überhaupt ist.

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