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Cannes 2014 Ein Film, der flattert wie eine angeschossene Taube

Der Film «Timbuktu» des mauretanischen Regisseurs Abderrahmane Sissako steht in Cannes im Wettbewerb um die Goldene Palme. Der Film ist zwar kraftvoll inszeniert, lässt aber eine klare Haltung vermissen.

In seinem Film «Bamako» liess der Regisseur Abderrahmane Sissako 2006 die afrikanische Zivilgesellschaft in einer fiktionalen Gerichtsverhandlung gegen Weltbank und IWF antreten. Das war clever, gut inszeniert und ziemlich vielschichtig.

Auch «Timbuktu» ist wieder in Mali angesiedelt. Aber der Film ist allenfalls teilallegorisch und zu drei Viertel realistisch. Er verhandelt im Märchenton die Drangsale der islamistischen Fundamentalisten gegenüber den Bewohnern der Stadt am Wüstenrand. Und auf mich kleinen, erschreckten Schweizer wirkt das nun, als ob Märchenerzähler und Filmer Nacer Khemir die Dürrenmattsche Dramatisierung eines Gotthelf-Romans verfilmt hätte.

Video
Ausschnitt aus «Timbuktu»
Aus Kultur Extras vom 15.05.2014.
abspielen. Laufzeit 45 Sekunden.

Mühe mit den Taliban

Dabei ist der Film überhaupt nicht lustig, oder nur manchmal. Und gar nicht schlecht, jedenfalls nicht im Hinblick auf Inszenierung, Dramaturgie und Bildgestaltung. Bloss mit den Taliban (die wohl welche sind, aber in dem Umfeld wahrscheinlich nicht so heissen, sagen wir also: Islamisten und Lokal-Djihadisten) scheint Sissako auf eine eher unerwartete Weise Mühe zu bekunden.

Zwar zeigt er, wie sie die einst offene, friedliche und offensichtlich wunderschöne Stadt zu einem Geisterort machen, in dem Musik, farbige Kleider, Fussbälle und wahrscheinlich alles, was irgendwie Freude machen könnte, verboten worden sind.

Sissako zeigt die Steinigung eines jungen Mannes und einer jungen Frau, wohl Ehebrecher. Zwangverheiratung. Verhaftungen. Gerichtsverhandlungen. Und er erzählt von einem braven Viehzüchter, der mit Frau und Tochter, acht Kühen und einem Stiefhütejungen vor der Stadt die Tradition pflegt und den Ängsten seiner Frau zum Trotz nicht wegziehen will. Bis er in der Wut den benachbarten Fischer erschiesst, der seine Lieblingskuh mit dem Speer erlegt hat, weil diese seine Netze zertrampelt hat.

Ein unbezahlbares Blutgeld

Jetzt kommt die Scharia zum Zug, das Gericht der Islamisten, und jetzt könnte der Film eigentlich spannend werden – so Sissako denn etwas aus der sorgfältig aufgebauten Situation herausholen würde. Aber nein: Der Mann wird zu 40 Kühen Blutgeld verurteilt, obwohl der Richter weiss, dass er nur noch sieben übrig hat und damit sicher gestellt ist, dass die Todesstrafe vollzogen werden kann.

Eine Frau in schwaruem Gewand und Kopftuch kniet schreiend im Sand.
Legende: «Timbuktu» zeigt, wie die Bewohner einer Stadt von Islamisten drangsaliert werden. Le Pacte

Dass ein anderer der Islamisten zuvor der Frau des Viehhalter nachgestellt hat, spielt übrigens keine Rolle mehr. Eben so wenig der Mann, der mit verbundenen Augen durch die Wüste geführt und von den seinen Häschern respektvoll behandelt worden ist.

Momente voller Kraft

Irgendwo versteckt sich ein spannender Film in «Timbuktu», in dem fast alle immer sehr höflich und leise und gottergeben debattieren miteinander, auf einem jämmerlich tiefen intellektuellen und religiösen Niveau zwar, aber irgendwie verblüffend doch. Und es gibt inszenatorische Momente voller Kraft.

Etwa die zu Beginn gezeigte Jagd vom Landrover aus auf eine kleine Gazelle, die am Ende des Films zur schönen kleinen Tochter des Viehzüchters wird – metaphorisch natürlich bloss. Und ein Fussballspiel begeisterter junger Männer, aufgrund des islamistischen Verbotes ohne Fussball gespielt, wie der legendäre Tennismatch bei Antonioni in «Blow Up».

Fleisch am Knochen, Gedanken im Kopf

Cannes: Frisch ab Leinwand

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SRF-Filmkritiker Michael Sennhauser schaut sich in Cannes dutzende Filme an und schreibt über seine ersten unmittelbaren Eindrücke.

Mehr Filmbesprechungen unter sennhausersfilmblog.ch.

Ja, das hätte ein Film sein können mit Implikationen, Anliegen, Fragen. Wenn Sissako zu einer Haltung gefunden hätte. Wenn seine Islamisten nicht bloss einfach dumm, oder dumm und korrupt, oder aber dumm und verlogen wären. Wenn sie nicht nur Fleisch am Knochen hätten, sondern auch Gedanken im Kopf, Argumente, Ideen und Widersprüche. Aber sie benehmen sich wie Anwärter auf den Titel «Hotzenplotz des Jahres», und bloss, weil man sie nicht ernst nehmen kann, heisst das noch lange nicht, dass sie nicht gefährlich sind.

Aber was ist das bloss für eine Erkenntnis? Der Film lässt mich ratlos und ein wenig wütend zurück. Ich mag sie nicht, diese Taliban. Und ich mag auch den Film nicht, der flattert und flattert, wie eine angeschossene Taube im Wüstenwind.

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