Zum Inhalt springen

Header

Inhalt

Neu im Kino «You Were Never Really Here» – Joe tötet für einen guten Zweck

«You Were Never Really Here» mit Joaquin Phoenix: ein intensives Kinoerlebnis, faszinierend und entsetzlich.

Joaquin Phoenix spielt die Hauptrolle im Film von Regisseurin Lynne Ramsay: die des schweigsamen, leidenden Killers Joe. Als Killer wird er schon in den ersten Bildern erkennbar.

Audio
«You Were Never Really Here»: Kritik von Michael Sennhauser
aus Kultur-Aktualität vom 24.04.2018.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 57 Sekunden.

In einem schäbigen New Yorker Hotel räumt er in einem Zimmer auf. Blutige Kleiderfetzen liegen herum, ein Mädchen-Collier mit einem Namen, ein blutverschmierter Hammer. Wen er umgebracht hat, werden wir nie erfahren.

Der brutale Rächer

Warum der Mord geschah, wird allerdings nach einer Weile klar. Joe befreit entführte Mädchen. Im Auftrag ihrer Eltern holt er sie aus Kinderbordellen oder der Pädophilen-Abteilung eines Edelpuffs für Politiker. Er befreit die Mädchen und hinterlässt totgehämmerte Männer, Bodyguards und Zuhälter.

Joe hat in Queens eine fragile, liebenswürdige alte Mutter, mit der er in einer Art Symbiose lebt. Rückblenden deuten an, dass er und sie unter dem gewalttätigen Vater gelitten haben.

Video
«You Were Never Really Here» - Filmausschnitt
Aus Kultur Extras vom 28.05.2017.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 29 Sekunden.

«Mad Max» trifft «Léon»

Aber eben: diese Rückblenden. Die Tonspur. Die Bilder. Lynne Ramsay hält das alles im Fluss, übergreifend. Man hört immer wieder ein Mädchen rückwärts zählen.

Joe hat Flashbacks, wie er als Soldat im Iran beobachtete, wie ein Junge mit einer Pistole ein Mädchen erschoss. Der Junge wollte den Schokoriegel, den Joe dem Mädchen Minuten vorher zugesteckt hatte.

Oder er erinnert sich, wie er bei einem FBI-Einsatz einen Lastwagen voller erstickter Asiatinnen fand.

Den letzten Rest Unschuld retten

Das Gerüst für «You Were Never Really Here» kommt vom Killer-Thriller. Es ist die Geschichte vom guten Mann, der durch die Schlechtigkeit der Welt watet, um den letzten Rest Unschuld zu retten.

Das ist «Mad Max», das ist, gegen Ende des Films, gar «Léon» von Luc Besson. Aber für Ramsay sind es die verknüpften Momente, die zählen. Der Augenblick der Erkenntnis des Mädchens, dass es gerettet wird. Der Moment, in dem Joe den Mörder seiner Mutter niederschiesst, ihm die Hand hält und mit dem Sterbenden «I’ve Never Been To Me» singbrummelt.

Komische oder ergreifende oder entsetzliche Momente, die im Fluss des Films auftauchen und im Wirbel wieder abtauchen.

Ein Mann und eine Frau am Tisch.
Legende: Joe mit seiner fragilen Mutter: die zarte Seite des Auftragkillers. Praesens Film

Durchkomponiert – aber wozu?

Dieser Film ist dermassen durchkomponiert, von den Bildern über die Musik bis zur mehrfachen Tonspur und dem Sounddesign, dass man versucht ist, Plot und Figuren zu vergessen und sich einfach treiben zu lassen. Aber dafür passiert dann doch wieder zu viel – und zu viel Entsetzliches.

Es ist schwer zu sagen, wo Regisseurin Lynne Ramsay mit diesem Film hin wollte. Aber die Reise ist faszinierend und ihre Kunstfertigkeit unbestreitbar.

Sendung: Kultur aktuell, Radio SRF 2 Kultur, 24. April 2018,

Meistgelesene Artikel