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Literatur David Mitchells Buch, das erst 2114 gelesen werden darf

Bestseller-Autor David Mitchell nimmt an einem verrückten Projekt teil: Für eine «Future Library» (eine Bibliothek der Zukunft) hat er ein Buch geschrieben, das 100 Jahre niemand zu lesen bekommen wird. Im Interview spricht der Autor von «Wolkenatlas» über sein Vertrauen in Papier und Bücher.

Der britische Autor David Mitchell – bekannt durch seinen Bestseller «Cloud Atlas» – beteiligt sich an einem verrückten Projekt: Die schottische Künstlerin Katie Paterson hat in Norwegen einen Wald gepflanzt für eine Bibliothek der Zukunft: die «Future Library».

Die Bäume dieses Waldes sollen in 100 Jahren das Papier liefern für Geschichten, welche bekannte Autorinnen und Autoren heute schreiben. Jedes Jahr schenkt ein Schriftsteller den zukünftigen Generationen einen Roman.

Den ersten hat die kanadische Schriftstellerin Margaret Atwood 2015 geschrieben. Ende Mai dieses Jahres hat David Mitchell als zweiter Autor ein Roman-Manuskript beigesteuert, das nun bis 2114 unter Verschluss gehalten wird.

Portrait des Schriftstellers David Mitchell.
Legende: «Das Projekt steht für Vertrauen in die Menschen», sagt Bestseller-Autor David Mitchell über die «Future Library». McNeill

David Mitchell, wie haben Sie reagiert, als die Anfrage kam, bei dem Projekt mitzumachen und eine Geschichte dafür zu schreiben?

Zuerst glaubte ich, das sei ein Scherz. Eine komplett verrückte Anfrage, die nicht ernst gemeint ist. Aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr war ich vom Projekt angetan. Als mir dann Katie Paterson, die Künstlerin des Projekts sagte, dass Margret Atwood als erste einen Roman dafür geschrieben habe, war mir klar: Ich bin der zweite.

Was hat Sie denn an diesem doch ziemlich verrückten Projekt fasziniert?

Es ist ein Vertrauensvotum in die Zukunft. Das hat mich fasziniert. Die Bücher werden auf Papier aus dem Holz der Bäume gedruckt, die eben gepflanzt worden sind.

Es ist also ein Projekt, das tief in die Zeit hineingeht und darauf vertraut, dass es in 100 Jahren noch eine Gesellschaft geben wird, dass es noch Bücher gibt – und Menschen, die lesen wollen.

Das Projekt vertraut auch darauf, dass Norwegen noch existiert und vor allem, dass es noch Bäume geben wird. Das ist doch schon viel. Und dann glaube ich auch einfach daran, dass sich die Menschen von ihrer besten Seite zeigen, wenn man ihnen vertraut. Dieses Projekt steht für Vertrauen.

Wie war es denn für Sie, für ein zukünftiges Publikum zu schreiben? Ein Publikum, das noch nicht mal auf der Welt ist?

Mitchells 3 Lieblingsbücher

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  • Michail Bulgakov: «The Master and Margarita» (deutsch: «Der Meister und Margarita»).
  • Shusaku Endo: «Silence» (deutsch: «Schweigen), Septime Verlag.
  • Rosemary Sutcliff: «The Eagle of the Ninth Trilogy» (deutsch: Der Adler der neunten Legion), Verlag freies Geistesleben.

Da ich ja nicht weiss, wer das sein wird, habe ich mir das auch gar nicht vorgestellt. Macht ja auch keinen Sinn. Denn wer kann schon sagen, was kommen wird.

Stellen Sie sich vor, ich hätte 1916 eine Geschichte für heutige Menschen schreiben sollen. Ich hätte mir niemals auch nur annähernd vorstellen können, wie die Welt im Jahr 2016 aussieht und was die Leute interessiert.

Dass es das Internet gibt, Facebook, dass die Medizin so grosse Fortschritte gemacht hat, dass Herztransplantationen möglich sind; aber auch, dass zwei schreckliche Kriege gewütet haben und dass es in Europa danach – mit Ausnahme des Jugoslawien Krieges – friedvolle Jahre geben würde. Oder Aufstieg und Fall des Kommunismus.

Man soll es also gar nicht versuchen. Deshalb habe ich über das geschrieben, was mich heute interessiert. Vor allem aber vertraue ich darauf, dass auch zukünftige Leser und Leserinnen Geschichten lesen und sich von Geschichten verführen lassen. Geschichten werden seit Tausenden von Jahren erzählt, das wird sich nicht ändern. Aber sich Geschichten auszudenken, über das, was in 100 Jahren sein wird: Das macht keinen Sinn.

Audio
David Mitchell im Gespräch
aus 52 beste Bücher vom 24.07.2016.
abspielen. Laufzeit 41 Minuten 24 Sekunden.

Bereitet es Ihnen Vergnügen zu denken, dass Ihre Enkel die Geschichte lesen werden? Ein zusätzlicher Anreiz vielleicht?

Ich kenne sie ja noch nicht, deshalb ist es ein abstraktes Vergnügen, mit vorzustellen, dass sie das vielleicht lesen. Reizvoll finde ich aber, dass sie – wenn sie es lesen werden – für einen kurzen Moment die Gedanken teilen, die ich 2016 gehabt habe, beim Schreiben. Das ist schön.

Wie lautet denn der Titel Ihrer Geschichte?

Das Manuskript heisst: «From Me Flows What You Call Time». Der Titel stammt von einem japanischen Komponisten, der eine Art klassische Mut-Musik erfunden hat: langsame transzendentale Musik für Schlagzeug und Streichinstrumente. Das passt super zu meiner Geschichte. Aber mehr darf ich nicht mehr verraten, sonst müsste ich Sie umbringen.

Gefällt Ihnen der Gedanke, dass Sie durch das Projekt auf eine Art unsterblich werden, so wie einige der Figuren in Ihrem neusten Roman «Knochenuhren»?

Mir gefällt der Gedanke, dass es ein kleines Stück von mir gibt, das in 100 Jahren noch übrig ist; zumindest für diejenigen, die sich dieses Projekt anschauen und die Bücher lesen, wenn sie veröffentlicht werden. Es ist ein kleines Zeichen dafür, dass ich hier gewesen bin.

Es ist ein bisschen wie das Graffiti, das ich hier in Zürich an einer Kirche gesehen habe, auf den Stein gesprayt. Es war jemand da und hat ein Zeichen hinterlassen. Mein Buch wird auch ein kleines Zeichen sein. Ein Zeichen von mir auf dem Stein der Zeit. Aber die Essenz dieses Projektes ist für mich das Vertrauen in die Zukunft. Heben wir ein Glas auf die Zukunft.

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