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Der letzte Romantiker Karl Heinz Bohrer feiert den unerwarteten Augenblick

Seine Abenteuer mit der Phantasie sind legendär. Jetzt, mit fast fünfundachtzig, schreibt Karl Heinz Bohrer seine Erinnerungen. Fünf Jahrzehnte Deutschland, von innen und von aussen betrachtet. Ihr Titel: «Jetzt».

Karl Heinz Bohrer

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Karl Heinz Bohrer (*1932) ist Literaturwissenschaftler und -kritiker und Verfasser vieler Werke um die zentrale Idee des Momentanismus, der «Plötzlichkeit». Er lebte lange als Korrespondent in England, wurde später Professor in Bielefeld. Als scharfzüngiger, auch polemischer Zeitkritiker stand er immer wieder im Zentrum heftiger Diskussionen.

«Wenn es soweit ist, wird man Dich umlegen müssen.»

Sachlich, nüchtern steht der Satz in Karl Heinz Bohrers Erinnerungen mit dem Titel «Jetzt». Ein Solitär und Skandal und doch nicht ganz irregulär in jener Zeit, mit der dieser Lebensroman beginnt. Es geht da um die Revolte von 1968 in der Bundesrepublik und die latente Gewissheit vieler, dass abzurechnen sei nach dem gelungenen Umsturz.

Bohrer schreibt mit wohlwollender Emphase über die Studenten in West-Berlin, aber als Exponent der konservativen «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» steht er auf der falschen Seite. Das schafft Feinde. Weder Marxist noch Revolutionär, erreicht ihn nur eins: das Ereignis. Das Unerwartete, Plötzliche, das hier seinen politisch grossen Auftritt hat.

Bohrer wird dieser Spur folgen. Sie wird seine Lebensspur, habituell und intellektuell. Er sucht das Ausserordentliche, auch wenn das eine Karriere in bürgerlichen Berufen nicht behindert.

Karl Heinz Bohrer in «Reflexe»

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Karl Heinz Bohrer berichtet, wie England vor Margaret Thatcher aussah, warum die Deutschen bis heute provinziell sind und wie er selber seinen ubestechlichen Blick auf die Welt entwickelt hat.

Die gefährdete Phantasie

Als Literaturchef in Frankfurt, Professor in Bielefeld und Stanford und als Herausgeber des Debattenblatts «Merkur» bleibt er Einzelgänger. Er pflegt private Verbindungen und intellektuelle Allianzen, ohne sich je mit einer Gruppe einzulassen.

Programmatisch ist der Titel seines ersten Buches: «Die gefährdete Phantasie, oder Surrealismus und Terror». Heinrich Heine und Walter Benjamin sind seine Lichtfiguren, von Theodor Adorno und Carl Schmitt, dem Denker der Rechten, erhält er gleichzeitig Zuspruch. Das ist so kompromittierend, dass Schmitts kurzer Brief an ihn schnell im Schreibtisch verschwindet.

Punk und Politik

«Der Philosoph» ist eine Leitfigur in «Jetzt», wobei Jürgen Habermas gemeint ist, dem Bohrer in spannungsvoller Nähe verbunden bleibt. Die Freundschaft mit Ulrike Meinhof endet, bevor sie als Terroristin in den Untergrund geht. Trotzdem ist Bohrer als Literaturchef der Frankfurter Allgemeinen nicht länger tragbar. Er wird durch Marcel Reich-Ranicki ersetzt und nach England weggelobt.

Buchhinweis

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Karl Heinz Bohrer: «Jetzt. Geschichte meines Abenteuers mit der Phantasie», Suhrkamp, 2017.

London und Paris sind jetzt die persönlichen und geistigen Fixpunkte. Aus England schickt er Reportagen, die die Umwälzungen der Thatcher-Jahre in ungewöhnlich prägnante Sätze fassen. Er schreibt über Reggae und Shakespeare, Punk und Politik. Und formuliert immer so, dass im Ästhetischen auch ein soziales Bewusstsein Kontur gewinnt.

Plötzlichkeit

Fasziniert ist Karl Heinz Bohrer überhaupt von den englischen Verhältnissen, die den deutschen in Stil und Haltung so schroff entgegenstehen. Mittelmass und Mittelstand prägen für ihn das Bewusstsein der alten Bundesrepublik.

Undine Gruenter

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Bohrers Ehefrau Undine Gruenter war eine bekannte Unbekannte der europäischen Literatur. Der Filmessay «Undine Gruenter – Das Projekt der Liebe» ergründet das Werk der Schriftstellerin und Intellektuellen.

Aufsehen erregen seine Artikel zur «Ästhetik des Staates» und der «Typologie des Politischen», die als Serie im «Merkur» erscheinen. Geschrieben in Paris Mitte der 1980er-Jahre, wo er mit der Schriftstellerin Undine Gruenter lebt, bis zu ihrem Tod 2002.

Heute ist London wieder sein Wohnort. Sein «Abenteuer mit der Phantasie» – so der Untertitel seines neuen Buches – reicht bis in die Gegenwart, auch wenn seine aktuellen Einlassungen nicht an den Scharfsinn früherer Tage reichen.

Karl Heinz Bohrers Erinnerungen feiern den unerwarteten Augenblick, im Denken und im Handeln. In ihrer seltenen Mischung aus Tagebuch und Zeitdiagnostik folgen sie der Spur unabhängigen Denkens.

An der letzten Frankfurter Buchmesse hat er aus dem Manuskript des Buches gelesen. Den Auszug über die Französische Revolution, über Saint-Just und die Guillotine. Ein Ereignis.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 29.03.2017, 16:50 Uhr

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