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Literatur Liebeserklärung an die versteckten Geschichten einer Strasse

Eine Strasse als Protagonistin: In «Chronik meiner Strasse» beschreibt die Schriftstellerin und Malerin Barbara Honigmann die Rue Edel in Strassburg, in der sie lebt, und erschafft mehr als ein realistisches Abbild – es geht um verlorene Identitäten und Neuanfänge, die kein Ende kennen.

Barbara Honigmann liebt Stoffe mit autobiographischer Nähe. Sie hat zum Beispiel ein Buch über ihre Mutter geschrieben: «Ein Kapitel aus meinem Leben». Sie schildert ihre Mutter darin als eine rätselhafte Mischung aus ungarischer Gutsbesitzerin, englischer Lady und kommunistischer Kämpferin, die in zweiter Ehe mit einem Meisterspion des 20. Jahrhunderts verheiratet gewesen war.

Buchhinweis

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Barbara Honigmann: «Chronik meiner Strasse», Hanser Verlag, 2015.

Sie hat auch ein Buch über ihren Vater geschrieben, den Journalisten, Chefredaktor und Kabarettautor Georg Honigmann, der aus einem assimilierten jüdischen Medizinerhaus in Hessen stammte. Auch ihren eigenen Werdegang hat Honigmann in Erzählungen gespiegelt.

Sammelbecken für Neuankömmlinge

Ihr neues Buch «Chronik einer Strasse» macht in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Barbara Honigmann wohnt wirklich in der Strasse, die sie beschreibt, und sie erzählt Geschichten, die sie tatsächlich gehört hat. Die Rue Edel in Strassburg ist eine «gemischte Gegend», wie Honigmann sagt.

Hier wohnen Juden, Moslems, Christen und Ungläubige. Hier wohnen Araber, Kurden, Schwarze, Pakistani, Inder und Stämme aus dem Kaukasus. Hier wohnen Normale, Erfolgreiche, Versager und Verrückte, die vom Balkon pinkeln. Hier streunen Hunde und Katzen. Und hier lebt auch die Schriftstellerin.

In der Rue Edel wohnt man, wenn man neu ist in Strassburg, bis man sich etwas Besseres leisten kann. Eine Strasse des Anfangs ist diese Rue Edel. Nur Barbara Honigmann ist geblieben. Sie wohnt seit 30 Jahren im Anfang.

Von Ostberlin nach Strassburg

Audio
Barbara Honigmann liest aus «Chronik meiner Strasse»
03:20 min
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 20 Sekunden.

Das passt. Das Anfangen, das noch einmal von vorne beginnen, ist ein Leitmotiv ihres Lebens und Schreibens. Ihre Eltern waren beide jüdisch, praktizierten aber ihr Judentum nicht, denn sie waren Kommunisten und entschieden sich nach 1945 bewusst für ein Leben in der DDR. Von der Entwicklung des Realsozialismus müssen sie beide enttäuscht gewesen sein, fanden aber keine Sprache, um mit ihrer Tochter darüber zu reden.

Für die Tochter, für Barbara Honigmann, war bald klar: Sie musste sich von ihren Eltern, vom Kommunismus und der jüdischen Assimilation trennen. In Respekt trennen. Sie musste «mit anderen Worten reden» und «noch einmal anders, ganz von vorne anfangen.» Ihr Leben ist ein Fortschreiten auf der Strasse des Anfangs.

Verloren, verlassen und vergessen

Und das ist exemplarisch für die Generation, die nach den Katastrophen und geplatzten Illusionen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurde. «Mein Schreiben», sagt Honigmann, «war im Grunde genommen aus einer mehr oder weniger geglückten Trennung gekommen. Ich begriff, dass Schreiben getrenntsein heisst und dem Exil sehr ähnlich ist.»

Barbara Honigmann entschied sich, als praktizierende Jüdin zu leben und zog, noch zu DDR-Zeiten, von Ostberlin nach Strassburg ins Quartier Juif, an die Rue Edel. Hier tragen fast alle eine verlassene Heimat, eine verlorene Kultur oder halbvergessene Sprache mit sich herum. «Chronik meiner Strasse» ist deswegen viel mehr als nur ein realistisches Abbild.

Spiegel unserer Zeit

Der knappe Text ergibt so etwas wie das Wesen, die Essenz von Exil und Fremdsein. Anhand von Biographien und Begegnungen schildert Honigmann mit warmer Anteilnahme und distanzierter Beobachtungsgabe Entwicklungen von Menschen, die nicht fraglos «zu Hause» sind: Einige können Fuss fassen und neue Identitäten ausbilden, andere versinken im Meer der Fremdheit. In unserer globalisierten und durcheinandergewirbelten Gesellschaft sind Honigmanns Erzählungen von grosser Aktualität.

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