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Von Mythen, Katastrophen und anderen Familiengeschichten: Die wichtigen Bücher im November
Aus Literaturclub vom 17.11.2020.
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Literaturclub-Gast Kulturjournalistin Anne-Sophie Scholl: «Lesen bedeutet Freiheit»

Wenn sich Herz und Kopf von Berufs wegen ständig um Bücher drehen, kann man sich dann überhaupt auf ein paar wenige Lieblingserscheinungen und Lese-Flopps beschränken? Literaturkritikerin und Kulturjournalistin Anne-Sophie Scholls kann es.

Anne-Sophie Scholl

Anne-Sophie Scholl

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Anne-Sophie Scholl ist freie Literaturkritikerin, Kulturvermittlerin und Dozentin. Sie lebt in Bern.

Ihr liebstes Buch? Gibt es das?

Ich habe immer neue Lieblingsbücher, es ändert ständig. Derzeit ist mein Lieblingsbuch «Frausein» von Mely Kiyak. Ich freue mich so, hat einer der beiden Herren der Runde das Buch in den aktuellen Literaturclub eingebracht.

Wo und wann lesen Sie am liebsten?

Im Zug. Wenn draussen die Welt vorbeizieht, kann ich mich gut in ein Buch vertiefen.

Mehrere Bücher gleichzeitig oder eines nach dem anderen?

Für Multitasking habe ich kein Talent.

Ich habe ein Regal mit lauter Heiligen.

Ein Buch, das Ihnen die Liebe zum Lesen eröffnet hat?

Da gibt es ganz viele. Nach der Schule lebte ich ein Jahr in Havanna. Meine Freunde dort reichten sich unter der Hand das Buch «Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins» von Milan Kundera weiter, eingeschlagen in einen Umschlag des «Kommunistischen Manifests». Da begriff ich: Lesen bedeutet Freiheit.

Eins, das Sie immer wieder zur Hand nehmen?

Ich habe ein Regal mit lauter Heiligen. Dort stehen zum Beispiel die Bücher von Elena Ferrante, James Baldwin, Annie Ernaux, Joan Didion oder Rebecca Solnit. Das Regal ist viel zu klein, das ist ein grosses Problem.

Anne-Sophie Scholl im Porträt. Sitzt vor einer gelbleuchtenden Lampe, ein blau beleuchtetes Fenster auf der anderen Seite im Hintergrund.
Legende: Mit dem Werk von Milan Kundera entdeckte Anne-Sophie Scholl den Wert von Literatur. SRF

Ein Buch, bei dem Sie laut lachen mussten?

Lachen und weinen. Bei meinem Lieblingsbuch in diesem Frühjahr: die wunderbar rotzige Liebesgeschichte von US-Autor Scott McClanahan in der Übersetzung von Clemens Setz: «Sarah.»

Gibt es eine Leseleiche – ein Buch das Sie niemals zu Ende lesen?

Da habe ich keine Hemmungen: Wenn mir ein Buch nicht gefällt, lege ich es weg und nehme ein anderes – es sei denn, ich muss es lesen aus beruflichen Gründen. Aber sonst gibt es viel zu viele gute Bücher. Das grosse Leid ist ja, dass man es gar nicht schafft, sie alle zu lesen.

Viele Männer tun immer noch so, als ob Bücher von Autorinnen sie nichts angehen würden.

Ein Buch, das Sie gerne verschenken?

Ein sehr schönes Buch ist «Acht Berge» von Paolo Cognetti. Toll ist auch «Der endlose Sommer» von Madame Nielsen.

Ein Buch, das Sie Kindern gerne vorlesen?

«Das Wintermärchen» von Ernst Kreidolf — vor allem wegen der Bilder. Meine Liebe zum Winter rührt daher.

Ein Buch, dem Sie mehr Leser wünschen?

Bücher von Frauen. Viele Männer tun immer noch so, als ob Bücher von Autorinnen sie nichts angehen würden. Das hat auch mit der Literaturkritik zu tun. Die klassischen Printmedien sind stark männlich dominiert — gerade in der Schweiz.

Kritikerfrauen sind offener, aber Kritikermänner besprechen deutlich mehr Bücher von Männern als von Frauen, dazu gibt es Studien. Das bringt nicht nur weitreichende Nachteile für Frauen, die schreiben. Auch dem Publikum werden interessante Stimmen vorenthalten: Autorinnen haben kaum Vorbilder, deswegen sind sie heute besonders innovativ und kreativ.

Das Gespräch führte Markus Tischer.

SRF 1, Literaturclub, 17.11.2020, 22.25 Uhr;

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