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Neues Buch von Jesmyn Ward Ein Roadtrip zwischen Realismus und Magie

Jesmyn Ward erzählt kraftvoll in ihrem vielstimmigen Roman «Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt!» vom ruhelosen Leben einer schwarzen Familie im amerikanischen Süden.

William Faulkner hat mit seinem Werk den amerikanischen Süden mythisch aufgeladen. «Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist nicht einmal vergangen», lautet sein berühmter Satz, der auch für den Roman der jungen afroamerikanischen Schriftstellerin Jesmyn Ward gilt.

«Singt, ihr Toten und ihr Lebenden, singt!» spielt zwar im modernen Mississippi, doch die Vergangenheit ist auf unheimliche Art präsent: Die ungesühnten Toten erscheinen in der Welt der Lebenden.

Unterschiedliche Blickwinkel

In dieser Geschichte einer schwarzen Familie gibt es zwei Ich-Erzähler, die sich von Kapitel zu Kapitel abwechseln: der 13-jährige Jojo und seine drogensüchtige Mutter Leonie.

Wir lernen Leonie aus der Perspektive ihres Sohns kennen. So begegnen wir ihr zuerst mit wenig Sympathie: Sie wirkt zerstreut und kümmert sich kaum um Jojo und seine kleine Schwester Kayla, die Kinder schlafen auf dem Fussboden.

Doch sobald wir in Leonies Ich-Erzählung sind, sehen wir die Welt mit anderen Augen. Die Figuren entstehen aus ihren Widersprüchen, das ist eine der grossen Stärken dieses Romans.

Buchhinweis

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Legende: Keystone

Jesmyn Ward: Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt. Aus dem Englischen von Ulrike Becker. Verlag Antje Kunstmann, München 2018.

Die Toten kehren zurück

Nach und nach verstehen wir Leonies Schmerz, denn einer der Toten, die als Geister wiederkehren, ist ihr Bruder Given. Nur jene Toten kommen zurück, die auf eine schlimme Weise gestorben seien, so heisst es.

Given wurde mit 19 Jahren von einem Weissen erschossen. In diesem Roman sind die Rassen eng miteinander verflochten: Später verliebt sich Leonie in den Michael, einen Verwandten von Givens Mörder. Er ist der Vater ihrer Kinder – und zieht den unversöhnlichen Hass seiner Eltern auf sich, weil er sich mit einer «Niggerin» eingelassen hat.

Eine ruhelose Familie

Dabei ist Michael alles andere als eine Lichtgestalt. Er sitzt seit drei Jahren im Gefängnis Parchman. Als er entlassen wird, packt Leonie die Kinder ins Auto und fährt in einem hoch dramatischen Road-Movie nach Norden – auf der Rückfahrt wird ihnen beinahe ein Drogendeal zum Verhängnis, und wir ahnen: In dieser prekären Familie kehrt keine Ruhe ein.

Der Vater und sein Baby 1967 in den Slums von Greenville, Mississippi.
Legende: Der Vater und sein Baby 1967 in den Slums von Greenville, Mississippi. Getty Images/Hulton Archive

Vergangenheit ist immer präsent

Die Vergangenheit ist durch ständige Rückblenden der beiden Ich-Erzähler präsent, doch auch das Gefängnis Parchman ist ein Symbol für unheilvolle Kontinuität. Vor gut fünfzig Jahren war hier schon Jojos Grossvater als Jugendlicher inhaftiert.

Eine Junge durchquert 1967 die Hauptstrasse von Greenville, Mississippi.
Legende: Barfuss und mit entschlossenem Blick: 1967 durchquerte dieser Junge Greenville, Mississippi. Getty Images/Harry Benson

Die Hunde, die auf die schwarzen Häftlinge gehetzt wurden und die «Trusty Shooters», die auf Ausbrecher schossen, gab es damals tatsächlich. Einer der Toten, die die Lebenden heimsuchen, ist der 12-jährige Richie, der die Misshandlungen in der Haft damals nicht überlebte.

Ein unergründlicher Fluch

Heute ist Parchman das einzige Hochsicherheitsgefängnis von Mississippi, die historischen Teile beruhen auf Recherchen der Autorin. So balanciert dieser Roman kühn zwischen Realismus und Magie, Wirklichkeit und Mythos.

Seine Tiefe gewinnt er nicht nur durch das unablässige Heraufbeschwören der Vergangenheit, sondern auch durch Jesmyn Wards kraftvolle, bilderreiche Sprache: Leonies Trauer um Given «hungerte nach Leben», die Erinnerungen «steigen an die Oberfläche wie Fäulnisblasen im Sumpf», das Gefängnis Parchman liegt im «schwarzerdigen Herzen» von Mississippi – man spürt schon in der Sprache den unergründlichen Fluch, der auf dem Süden lastet.

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