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Netzwelt Das Selfie – Selbstporträts jenseits des Narzissmus?

Das «Oxford Dictionaries Word of the Year» will möglichst treffend den Zeitgeist abbilden: 2013 ist das Jahr des «Selfie» – also von Selbstporträts, die vor allem Jugendliche auf Facebook und Co. hochladen. Klingt oberflächlich, ist aber mehr als das Lebensgefühl einer narzisstischen Generation.

Word of the Year

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Die Sprachforscher der Oxford Dictionaries krönen jedes Jahr ein Wort in der englischen Sprache: Es soll am besten die Stimmung des jeweiligen Jahres wiedergeben («to reflect the ethos, mood, or preoccupations of that particular year»). Im Jahr 2009 war dies «unfriend», 2007 «carbon footprint» und 2005 «Sudoku».

Selfie als englisches Wort des Jahres – was gibt es für ein passenderes Wort für die ich-bezogene «Generation Y»? Das Selfie ist das ultimative Emblem dieses narzisstischen Zeitalters, oberflächlicher geht es kaum: Beim Selfie dreht es sich weniger um die Person an sich, sondern vor allem um deren Aussehen – und das will bewertet werden. Ein Selfie wird auf Facebook oder Instagram gepostet mit der implizierten Frage: Wie sexy, cool, verrückt, süss, trendy bin ich?

Narzissmus ist kein neues Phänomen

Während die einen dieses Phänomen verteufeln, bei dem nur Äusserlichkeiten zählen, werden gleichzeitig Stimmen laut, die sagen: Ist doch alles nicht so schlimm. Auf den Vorwurf, das Selfie würde oberflächliche, status-getriebene Wertvorstellungen propagieren und als gefährliche Norm etablieren, hält die Pro-Selfie-Seite dagegen: Das Social-Media-Zeitalter hat den Narzissmus nicht erfunden.

Auch wenn die Technologie neu ist, der Trieb, den sie befriedigt, ist so alt wie die Menschheit selbst. Seit jeher haben die Menschen sich selbst porträtiert, sei es als Höhlenmalerei, in Ton, mit Marmor oder in Ölfarbe.

Suche nach Bestätigung?

Was das Selfie allerdings von diesen Selbstporträts unterscheidet, ist die offensichtliche Aufforderung nach einer Reaktion. «Selfies sind kein Ausdruck von Selbstbewusstsein oder gar Stolz, sondern ein Suche nach Bestätigung», schreibt Jezebel-Bloggerin Erin Glora Ryan und argumentiert für die schädliche Wirkung von Selfies auf junge Mädchen. «Selfies sind eine High-Tech-Reflektion einer kaputten Gesellschaft, die Frauen beibringt, dass ihre wichtigste Eigenschaft ihre Attraktivität ist.»

Das Selfie

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Ein Selfie ist ein Foto-Selbstporträt, typischerweise aufgenommen mit einem Smartphone oder einer Webcam, das in einem Sozialen Netzwerk hochgeladen wird. Prominente wie Sängerin Rihanna machten Selfies populär, auch US-Präsidentengattin Michelle Obama mischt bei dem Trend mit.

Ganz anders sieht das die Autorin Rachel Simmons. «Selfies helfen Mädchen dabei, ihr Selbstbewusstsein zu entwickeln.» Während ihnen beigebracht wurde, möglichst demütig und gesittet aufzutreten, könnten sie mit den Selfies ihr Selbstwertgefühl aufbauen. «Jedes Foto, das die Mädchen von sich posten, ist ein kleines Stück Selbstachtung», so Simmons.

Tatsächlich spielen die Jugendlichen mit ihren Selbstporträts. Bei einigen Fotos merkt man, dass es wahrscheinlich der 20. Versuch war, bis die Haarlocke und der Schmollmund sassen, hingegen gibt es auch viele Bilder, wo geschielt wird, die Unterhose extra peinlich und die Pose besonders unvorteilhaft ist.

Duckfaces und Victory-Zeichen

Unter Teenagern, männlich und weiblich, ist das Phänomen weit verbreitet. Laut dem Pew Research Center haben 91 Prozent der Teenager in den USA schon mal irgendwo ein Selfie gepostet. Populäre Gesten sind das Victory-Zeichen, aufgerissene Augen, Schmollmünder und Knutschgesichter, so genannte Duckfaces.

Selfies auf Beerdigungen

Eine neuer Trend unter Teenagern, so postulieren es zumindest diverse Medien, sind Selfies auf Beerdigungen. «Ich liebe mein Haar heute. Hasse, warum ich aufgebrezelt bin. #funeral», und «Mein ganzes Make-up ist verheult, so eklig aber #funeral», lauten die Meldungen, die auf der Tumblr-Seite Selfies At Funerals gesammelt werden.

Klingt makaber, und die Tageszeitung Taz fragt durchaus berechtigt: «Jugendliche posieren auf Beerdigungen und posten diese Selbstporträts im Netz. Ist das noch normal?» Die Antwort geben Experten – und die lautet: Ja.

Für die Sterbeforscherin Anne Smith ist diese Inszenierung nichts Negatives. Dieses selfie-typische Bedürfnis nach dem Gesehenwerden sei in diesem Fall weniger die Suche nach Selbstbestätigung als vielmehr eine andere Art von Trauerarbeit. Die Jugendlichen suchen Trost in der digitalen Welt. «Wir müssen vorsichtig darin sein, diese Praktik zu verurteilen», so Smith. Die Jugendlichen bewegen sich selbstverständlicher auf Instagram und Co.: «Das Umfeld, in dem sie kommunizieren, ist auch das Umfeld, in dem sie trauern.»

Jugendliche teilen auf den Netzwerken alle möglichen Details ihres Alltags – neben der Silvesterparty, Feriendestinationen, Shoppingausbeute oder Metzgete-Platten sind Beerdigungen auch ein Teil davon.

Nicht präsentieren, sondern teilen

Auf den ersten Blick mögen Selfies also vor allem oberflächlich und selbst-verliebt wirken, auf den zweiten Blick sind sie aber einfach eine weitere Möglichkeit, um in Kontakt mit anderen Menschen zu treten.

Selbstporträts werden erst zu Selfies, wenn sie auf den sozialen Netzwerken gepostet werden – und «sozial» ist hier das Stichwort: Während es sich primär um das «ich» zu drehen scheint, geht es eigentlich um ein grundlegendes menschliches Bedürfnis: ein «wir» zu finden.

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