Es ist im Herbst 2015. Die Flüchtlingsströme in Richtung Europa sorgen für traurige Schlagzeilen. Auch die Familie von Anna Barbara Koch im Aargauer Freiamt – Vater, Mutter, vier Kinder im Teeanger-Alter – liest und diskutiert diese Schlagzeilen. «Unsere eigenen Kinder und wir Erwachsenen haben uns gefragt: Wie könnten wir uns engagieren?»
Dann sieht Anna Barbara Koch den Aufruf der Aargauer Organisation Familynetwork, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Diese sucht im Auftrag des Kantons Pflegefamilien für unbegleitete, minderjährige Asylsuchende. Bisher sind lediglich gut 30 von über 200 im Aargau lebenden minderjährigen Asylsuchenden, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen in Familien untergebracht. Bei Kochs aber sei die Entscheidung schnell und einhellig gefallen, erzählt die Lehrerin und Familienfrau. «Wir haben Platz und selber eine gute Situation.»
Die erste grosse Hürde: Deutsch
Im Januar 2016 ist es soweit: Ein inzwischen 15-jähriger Junge aus Afghanistan stösst zur Familie dazu. Ein neues Geschwister, ein neues Kind – und doch sei die Situation ganz anders, sagt die Pflegemutter. «Es kommt ein Kind dazu, das schon eine grosse, eigene Lebensgeschichte mit sich bringt.»
Es ist ein Kind mit einer grossen, eigenen Lebensgeschichte.
Die grösste Hürde zu Beginn ist die Sprache. Der Jugendliche kann ein paar Brocken Englisch. Ansonsten habe man sich «mit Händen und Füssen» verständigt und mit Hilfe von Übersetzungsprogrammen auf dem Smartphone, erzählt Anna Barbara Koch im Gespräch mit SRF. Sie übt intensiv mit ihrem Pflegekind aus Afghanistan. Gerade Wörter aus dem Alltag habe er schnell gelernt. «Es passiert einfach», sagt Koch.
Natürlich müsse man gerade zu Beginn aber viel Zeit investieren, sagt die Kirchenpflegerin. «Es ist eine Voraussetzung, dass man dazu Lust hat.» Auch die Familie muss ihren Beitrag zur sprachlichen Integration leisten. «Wir versuchen, möglichst durchgehend schriftdeutsch zu sprechen, wenn er da ist.»
Inzwischen spricht der 15-jährige Junge ziemlich gut deutsch. Er besucht die letzte Klasse der Realschule. Seine Pflegemutter wünscht sich, dass er eine Lehrstelle findet – «mittelfristig». Wahrscheinlich brauche es noch ein Brückenjahr, bis das klappt.
Die kulturellen Unterschiede sind eine Bereicherung.
Wie aber geht die Familie im Freiamt mit den kulturellen Unterschieden um? Der Jugendliche kommt aus einem islamischen Land, die Familie im Freiamt ist christlich geprägt. Anna Barbara Koch winkt ab. «Es sind gewisse Details, die aber nicht ins Gewicht fallen. Wir haben es nie als Problem wahrgenommen, sondern eher als Bereicherung.» Beim Brotbacken habe ihr Pflegesohn zum Beispiel erklärt, dass man in Afghanistan Brot ganz anders backe.
Teenager mit einer unbekannten Geschichte
Sonst weiss Anna Barbara Koch und ihre Familie noch nicht viel über das persönliche Schicksal ihres jüngsten Familienmitglieds. «Er hat schon hin und wieder etwas erzählt, aber noch nicht viel. Es braucht viel Vertrauen dazu.» Der Junge pflegt – so weit wie möglich – Kontakte in seine Heimat.
Im Alltag sei sie bei ihrem Pflegekind mit den gleichen Herausforderungen konfrontiert wie bei den eigenen Kindern, so die Mutter. Es sei halt «ein Teenager mehr» im Haushalt. Ihre Empfehlung an Familien, die sich die Aufnahme eines Flüchtlings ebenfalls überlegen? «Man braucht Zeit und Platz und die Offenheit, sich auf einen Menschen einzulassen. Und Gelassenheit und Humor.»
Er gehört zur Familie dazu.
Anna Barbara Koch und ihre Familie haben sich für einen grossen Schritt entschieden, haben ihr Haus für einen fremden Menschen geöffnet. Sie bereuen es nicht. «Er gehört zur Familie dazu, wir haben ihn als extrem liebenswürdigen Menschen kennen gelernt.» Ja, sagt Anna Barbara Koch, es wäre schlimm für sie als Familie, wenn er plötzlich wieder gehen müsste.
Ein wenig Hoffnung für die Zukunft
Gleichzeitig hofft die Pflegemutter darauf, dass es in seiner Heimat Afghanistan bald wieder Frieden gibt und Perspektiven für die Menschen. Denn sie weiss: Ihr Haus ist nur ein Ersatz-Daheim. «Natürlich hat er Heimweh», sagt sie. Man könne sich wohl kaum vorstellen, wie es sei für einen Jugendlichen, so weit weg von Familie und Heimat leben zu müssen.
Hat sich ihr Blick auf die Flüchtlingskrise, auf die Migrationspolitik denn verändert durch die persönliche Begegnung mit diesem jungen Menschen aus Afghanistan? «In unserer Familie ist das Bewusstsein noch gewachsen, dass man einzelne Menschen als Menschen wahrnehmen sollte und nicht als anonyme Gruppe, die man schnell pauschal und meistens negativ beurteilt.»
Die Lage in Afghanistan
In Afghanistan herrscht de facto noch immer Krieg. Laut der UNO sind in diesem Jahr über 11'000 Zivilisten bei Terroranschlägen und kriegerischen Handlungen getötet worden. Kampfhandlungen und Anschläge werden aus 31 von 34 Provinzen gemeldet. Die radikalislamischen Taliban stehen den überforderten Polizei- und Militäreinheiten der Regierung gegenüber. Durch die Kampfhandlungen ist auch das Wirtschaftswachstum massiv gebremst, ein grosser Teil der Bevölkerung lebt in Armut. Gleichzeitig sind in Afghanistan laut Medienberichten bis zu zwei Millionen Menschen auf der Flucht und oft auf humanitäre Hilfe angewiesen. Das UNO-Flüchtlingshilfswerk hat Lager errichtet. Zehntausende werden aktuell aus Pakistan zurück in ihre Heimat geschickt. Auch die EU will abgewiesene Asylbewerber nach Afghanistan zurückführen. Deutschland hat beispielsweise mit der Abschiebung von Flüchtlingen bereits begonnen. Die Bundesregierung bezeichnet das Land als «in Teilen sicher», was von Journalisten und Menschenrechtlern vor Ort vehement bestritten wird. |
Hinweise: Der jugendliche Asylsuchende aus Afghanistan wird aus Sicherheitsgründen und auf Anweisung von Kanton und Vermittlungsorganisation in allen Medienberichten von SRF anonymisiert.
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