Für die Obwaldner Autorin Heidy Gasser begann die Geschichte mit einem Koffer voller Briefe. Die Briefe geben Einblick in das Doppelleben einer gutbürgerlichen Ehefrau und Mutter aus der Innerschweiz. Sie erzählen von unzähligen Liebschaften, welche die Frau während ihrer Ehe hatte – unter anderem mit auffällig vielen katholischen Priestern.
Den Koffer mit den Briefen erhielt Heidy Gasser von den Töchtern der mittlerweile verstorbenen Frau. Sie verarbeitete den Stoff zu einem Roman und gab ihm dem Titel «Die Verführerin». Der Roman ist im bildfluss-Verlag in Altdorf erschienen. Die Identität der Frau hält die Autorin geheim. Im Interview erzählt Heidy Gasser, wie diese Frau lebte und was sie persönlich an ihr fasziniert.
SRF News: Die Briefe geben einen tiefen Einblick in eine schwierige Familiengeschichte. Weshalb wollten sie die beiden Töchter der Frau veröffentlicht sehen?
Heidy Gasser: Als die Töchter diese Briefe nach dem Tod ihrer Mutter entdeckten, waren sie von deren Inhalt zuerst einmal erschlagen. Sie hatten nichts von den vielen Liebschaften der Mutter geahnt und waren schockiert darüber. Trotzdem waren sie überzeugt, dass dies aufgearbeitet werden muss und wandten sich damit an mich.
Ich erhielt von ihnen fast 200 Briefe - geschrieben von der Mutter und von verschiedenen Männern, darunter vielen Priestern und Mönchen. Man merkt, das waren gebildete Männer, sie schrieben ihr die wunderbarsten Liebesbriefe.
Was war das für eine Frau, die diese unzähligen Liebschaften pflegte?
Sie kam aus einer guten Familie. Der Vater war ein angesehener Politiker, die Familie stand also in der Öffentlichkeit. Doch das Kind ging unter, wurde eigentlich vom Hausmädchen erzogen. Man kann sagen, dass die Frau als Mädchen geradezu wohlstandsverwahrlost war. Dieses Manko aus der Kindheit führte zu einer lebenslangen Suche nach der wahren Liebe.
Von ihrem Ehemann wurde sie bitter enttäuscht. Der attraktive, gebildete Mann, den sie heiratete, war kein sinnlicher Mensch – sie dagegen sehr. Ein paar Jahre harrte sie aus, danach suchte sie nach anderen Lösungen. In der Nachbarschaft fiel das nicht auf, weil viele der Besucher aus dem Klerus stammten. Da schöpfte niemand Verdacht.
Wie reagierte denn die Kirche?
Da fiel es schon eher auf. Ich habe Briefe gefunden, in denen sie der Abt eines Klosters ermahnt und ihr zu verstehen gibt, dass man sie im Auge behalte. Doch weil ihr Vater ein einflussreicher und angesehener Politiker war, hielt man das unter dem Deckel.
Was fasziniert Sie persönlich an der Frau?
Ihr Mut. Viele andere Frauen hätten zur damaligen Zeit – die Frau hatte Jahrgang 1924 – resigniert und wären depressiv geworden. Sie jedoch brach aus. Auf der anderen Seite hatte sie aber auch stark egoistische Züge, was mich eher irritiert.
Das Buch beruht auf diesen wahren Begebenheiten, ist jedoch ein Roman. Wie viel ist Fiktion?
Das ist schwierig zu sagen. Ich hatte immer wieder Rücksprache mit den Töchtern, die mich auf Gewisses aufmerksam machten. Wie die einzelnen Situationen abgelaufen sind, konnte ich natürlich nicht genau wissen. Da ich jedoch zu jeder Szene Briefe hatte, konnte ich sie in etwa nachvollziehen.
Das Gespräch führte Miriam Eisner.