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Wirtschaft Angst vor Privatisierung öffentlicher Dienste geht um

Seit drei Jahren wird über die Liberalisierung des Diensthandels im Rahmen des Tisa-Abkommens verhandelt. Deregulierte Dienstleistungen, etwa von Versicherungen und Banken, sollen das Wachstum ankurbeln. Doch je länger die Gespräche andauern, desto mehr wächst Widerstand.

Donnerstagabend in Basel: Soeben hat Stefan Giger, Zentralsekretär der Gewerkschaft Vpod, sein Referat gegen das Tisa-Abkommen beendet. Die anwesenden 30 Bus- und Tramchauffeure der Basler Verkehrsbetriebe applaudieren eifrig. Kein Wunder: Tisa soll nicht nur den privaten Dienstleistungssektor liberalisieren – also die Banken- oder Versicherungsbranche – sondern auch staatliche Dienstleistungen könnten dereguliert werden, sagte Giger in seiner Rede.

Dazu gehörten auch das Gesundheitswesen, die Bildung oder der öffentliche Verkehr. Das alles sind Sektoren, in denen der Vpod stark vertreten ist. Deshalb ist er zurzeit die lauteste Stimme in der Schweiz gegen das Tisa-Abkommen.

Angst vor mehr Arbeit für weniger Lohn

Die meisten der Anwesenden haben noch nie von Tisa gehört. «Es hat mich erschreckt, so wie damals das Gatt-Abkommen», sagt ein Trämmler. «Gatt ist der Grund für sehr viel Liberalisierung. Die ist nicht gut für den Angestellten, den Endverbraucher und damit auch nicht für den Steuerzahler.» Einer Anwesenden gefällt Tisa auch nicht, «weil ich sehr grosse Gefahren sehe in dieser Entwicklung, die für uns letztlich schlecht ist», sagt sie. «Wir können nicht mehr die qualitativ gleich hochstehenden Dienstleistungen geniessen wie heute», befürchtet sie.

Liberalisierung und Deregulierung, das ist für die Trämmler und Buschauffeure gleichbedeutend mit Mehrarbeit für weniger Lohn. Freilich, ob staatliche Dienstleistungen tatsächlich von Tisa betroffen sein werden – falls das Abkommen überhaupt zustande kommt – wissen derzeit nur wenige.

Grösstenteils geheime Verhandlungen

Einer der Eingeweihten ist Christian Etter, zuständig für Aussenwirtschaft im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Die Karten auf den Tisch legen darf er nicht. Die verhandelnden Nationen haben sich strikte Geheimhaltung auferlegt. «75 bis 85 Prozent des schweizerischen Sozialprodukts werden im Dienstleistungssektor erwirtschaftet. Das heisst, es sollen unnötige und ungerechtfertigte Handelshemmnisse abgebaut und die Planungssicherheit für das internationale Dienstleistungsgeschäft soll erhöht werden.»

Audio
Tisa-Abkommen - Skepsis durch Unwissen?
aus Echo der Zeit vom 16.04.2015. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 7 Minuten 28 Sekunden.

Konkret: Eröffnet zum Beispiel eine Schweizer Versicherung ein Filialnetz in einem Land, welches das Tisa-Abkommen unterzeichnet hat, so darf die dortige Regierung den einmal für Private geöffneten Sektor nie mehr verstaatlichen. So sollen die Investitionen der Privaten geschützt werden.

Etter weist die Behauptung des Vpod weit von sich, wonach über die Hintertüre auch über staatliche Dienstleistungen wie das Bildungs- oder Gesundheitswesen verhandelt werde. «Diese Aussage basiert auf falschen Vorstellungen.» Er verweist auf die Homepage des Seco. Dort sind all jene Punkte aufgelistet, über die die Schweiz nicht verhandeln will. Und dazu gehören alle heutigen staatlichen Dienstleistungen wie Post, öffentlicher Verkehr, Gesundheits- und Bildungswesen.

Bei Gültigkeit von Anhängen ist man sich uneins

Giger vom Vpod gibt zu, dass das stimmt. Das Seco wolle darüber nicht verhandeln. Doch er fügt hinzu: «Erschreckend ist dann aber, wenn man feststellt, dass ausserhalb des eigentlichen Abkommenstextes Anhänge vorgesehen sind. Diese gelten dann für alle, unabhängig davon, ob ein Sektor ausgenommen wurde oder nicht. Wenn so ein Annex definiert wurde, so gilt er universell.»

Das Seco sagt auch hier, das sei falsch. Ein Annex gelte nur, wenn er auch von allen angenommen worden sei. Und so könnte das Spiel ewig weitergehen. Hier die Gewerkschaft Vpod, mit Informationen alimentiert, die vom europäischen Gewerkschaftsdachverband in Brüssel kommen, sowie von Wikileaks, wo beinahe wöchentlich neue Verhandlungsdokumente publiziert werden. Da das Seco, das dementiert oder wegen der Geheimhaltungspflicht nicht in die Details gehen kann.

Dienstleistungen von WTO-Verhandlungen abgesplittet

Fakt ist, dass die USA die Tisa-Verhandlungen initiiert haben. Ursprünglich war geplant, dass im Rahmen der Welthandelsorganisation WTO ein neues Abkommen über die Deregulierung des Dienstleistungssektors ausgehandelt wird. Weil dort aber alle 160 Mitgliedsländer nicht nur im Bereich Dienstleistungen, sondern auch im Landwirtschaftssektor und in anderen heiklen Dossiers eine Übereinkunft finden müssen und dies erst noch einstimmig, gelten die Verhandlungen als blockiert.

2012 haben die USA deshalb 23 Staaten, darunter auch die EU und die Schweiz, eingeladen, um nur über das komplexe Dossier Dienstleistungen zu verhandeln. Die USA nennen die teilnehmenden Staaten «the really good friends», die wirklich guten Freunde. In globalisierungskritischen Kreisen löst dieser Name Argwohn aus.

Verhandlungen vorerst unter «guten Freunden»

Denn die 23 Tisa-Länder dominieren etwa 70 Prozent des weltweiten Dienstleistungssektors. Giger warnt: «Wenn Tisa dann mal steht, sind diese 23 Länder wie eine Mauer.» Oder besser wie ein Machtblock, an dem niemand mehr vorbeikommt. Wolle nämlich ein Land dem Tisa-Abkommen später beitreten, werde es seinen Dienstleistungssektor noch viel mehr öffnen müssen, als dies die Gründerstaaten unter sich getan hätten, sagt der Vpod-Zentralsekretär weiter.

Das sei auch im Rahmen der WTO so gewesen. Russland, das später als der Hauptharst der WTO-Länder beigetreten sei, habe seine Märkte viel mehr öffnen müssen als die anderen Staaten. China und Indien, beides Länder, die ihre Wirtschaft stark schützen, seien genau deshalb von den Tisa-Verhandlungen ausgeschlossen worden. Zuerst wollten sich die «very good friends» unter sich einigen, um dann die für sie interessanten Dienstleistungsmärkte in Indien und China besser aufbrechen zu können, sagt Giger.

Tisa: Eine noch unentdeckte, tickende Zeitbombe?

Die Tisa-Verhandlungen lösen nicht nur in linken und grünen Kreisen Unbehagen aus. Die ehemalige EU-Kommissarin und luxemburgische christlich-soziale Politikerin Viviane Reding sagte unlängst über Tisa: «Hier tickt eine Zeitbombe, nur hat sie noch niemand entdeckt.»

Als abschreckendes Beispiel, was nach Abschluss eines Abkommens passieren könnte, wird gerne auf einen Gerichtsfall in Uruguay verwiesen. Dort hat die Regierung verfügt, dass Zigarettenpäckchen künftig mit Warnhinweisen versehen werden müssen. Der US-Tabakkonzern Philip Morris hat die Regierung nun auf Schadenersatzzahlung von zwei Milliarden Dollar verklagt, weil ihm durch die Massnahme erwartete Einnahmen entgingen. Tisa werde den Handlungsspielraum der Politik zu Gunsten von privaten Unternehmen weiter einschränken, sagen Globalisierungskritiker.

Doch auch bei diesem Beispiel muss festgehalten werden: Niemand weiss, ob diese Fälle mit Tisa tatsächlich zunehmen werden. Denn worüber genau verhandelt wird, wissen nur die wenigsten. Und das ist vermutlich der grösste Schwachpunkt.

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