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Die Entscheidung – Wenn Mütter gehen
Aus DOK vom 19.05.2022.
Bild: SRF abspielen. Laufzeit 49 Minuten 37 Sekunden.
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Tabus brechen Wenn Mann Frau ist, ein Jude ohne Gott lebt und Mütter gehen

Die DOK-Serie porträtiert Menschen, die eine mutige Entscheidung getroffen haben. Vom Mann zur Frau, vom gläubigen Juden zum Agnostiker und von der Familienmutter zur Single-Frau.

Was passiert, wenn man sein Leben massiv verändert? Drei Menschen, die das gewagt haben, berichten über ihre Erfahrungen und zeigen: Oft brauchen Veränderungen Mut, können das Leben aber zum Guten verändern.

Maura Stocker – Wenn Mütter gehen

Zieht eine Frau und Mutter aus der Familienwohnung aus und nimmt die Kinder nicht mit, bricht sie ein gesellschaftliches Tabu. Maura Stocker hat genau das getan. Sie habe es nie bereut, Kinder zu haben. Und sie sagt, sie hätte den besten Exmann. Obwohl es nicht einfach war, seien sie als Eltern immer zusammen gestanden.

Maura Stockers Gesicht im Seitenprofil.
Legende: Sich zu trennen und die Kinder beim Vater und Ex-Mann zu lassen, war alles andere als eine leichte Entscheidung für Maura Stocker. SRF

Als sie ging, waren die Kinder zwei, sechs und acht Jahre alt. Die Kinder lebten damals 70 Prozent beim Vater und 30 Prozent bei ihr. Jetzt sei es hälftig aufgeteilt, erzählt Maura Stocker heute. Als sie damals vor sieben Jahren ging, wurde sie gemieden. Nachbarn wechselten gar die Strassenseite.

Maura Stocker ging, weil sie nicht mehr konnte. Sie erlitt 2015 eine heftige Panikattacke. Sie konnte nicht mehr gehen und sprechen. Im Kriseninterventionszenter (KIZ) diagnostizierte man eine Erschöpfungsdepression. Später auch noch eine ausgeprägte Form von ADHS. «Ich wollte alles perfekt machen und habe mich komplett verausgabt.» Sie habe ihre Grenzen weder gemerkt noch gewahrt.

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Maura Stocker: «In der Nacht arbeitete ich, am Tag die Kinder und der Haushalt war chaotisch»
Aus DOK vom 19.05.2022.
abspielen. Laufzeit 3 Minuten 23 Sekunden.

Psycho- und Paartherapeutin Felizitas Ambauen erklärt, dass Mütter unter grossem Druck stünden. Die Rollenanforderung hätten sich ich in den letzten Jahren noch verschärft. Dieser Perfektionsanspruch treibe Mütter in eine Überlastung. Je mehr der Fokus auf den Müttern liege, je weniger werde auch den Vätern ihre Berechtigung im Gedeihen aller Familienmitglieder zugesprochen.

Christine Hug – Wenn Mann Frau ist 

Christine Hug kam im Mai 1980 Jahren als Christian Urs Hug zur Welt. Er merkte bereits als kleiner Bub, dass er anders sein möchte. Die Mutter war Hausfrau, der Vater Polizei- und Militäroffizier.

Christine Hug richtet ihre Frisur vor dem Badezimmerspiegel.
Legende: Die heute 41-jährige Christine Hug entschied vor vier Jahren, als Frau zu leben. SRF

Niemand ahnte, dass Christian Hug sich im falschen Geschlecht fühlte. Christian hatte Angst. Angst, abartig zu sein, zurückgewiesen zu werden. Und so verdrängte er seinen Wunsch, als Frau zu leben, über viele Jahre. Bis er nicht mehr konnte.

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«Hätte ich damals in der Primarschule einen Zauberstab gehabt, hätte ich mich in eine Frau verwandelt»
Aus DOK vom 05.05.2022.
abspielen. Laufzeit 43 Sekunden.

Geprägt vom eigenen Vater und dessen Leidenschaft fürs Militär, hatte Christine Hug in jungen Jahren den Weg zum Berufssoldaten eingeschlagen und eine steile Karriere hingelegt. Innert weniger Jahre wurde sie zum Oberstleutnant und damit zum Kommandanten eines 300-köpfigen Panzerbataillons.

Christian Hug, damals noch ein Mann, heiratete Tanja Hug und wurde Vater einer Tochter. Alles schien perfekt. Eine Karriere, ein Eigenheim, ein Pferdehof, Frau und Kind. Und doch fühlte es sich falsch an. Ende 2017 merkte Christian Hug, dass seine Depressionen einen Zusammenhang mit seinem für ihn falschen Geschlecht haben.

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Tanya Hug: «Christian stand als Christine vor der Türe. Geschminkt und mit High Heels»
Aus DOK vom 05.05.2022.
abspielen. Laufzeit 57 Sekunden.

Trotz aller Verlustängste entscheidet er sich von nun an, als Frau, als Christine, zu leben. Für Ehefrau Tanja ist das ein Schock. Christine Hug fängt sofort mit der Hormontherapie an und unterzieht sich einer geschlechtsangleichenden Operation.

Christine Hug weiss, dass alles, was jetzt noch auf sie zukommen mag, niemals so schmerzhaft sein wird, wie die Unterdrückung ihrer selbst während so vieler Jahre.

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Das Ehepaar Hug über den Umgang mit Fragen zu ihrem Beziehungsstatus
Aus DOK vom 05.05.2022.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 45 Sekunden.

Christine Hug sagt, sie habe seit ihrem Coming-out vor vier Jahren keine schlechten Reaktionen erlebt. Für Ehefrau Tanja ist die Situation eine andere. Sie hatte sich in einen Mann verliebt und lebt heute mit einer Transfrau zusammen. Und doch schaffen sie es bisher, zusammenzubleiben. Schliesslich hätten Lieblingsmenschen kein Geschlecht.

Erfrischend unkompliziert sieht es die gemeinsame Tochter Julia. Statt Papa sagt die Zwölfjährige halt jetzt Nana. Zumindest für Julia ist das alles keine grosse Sache.

Samuel Friedman – Der Aussteiger

Samuel Friedmans Körper ist voller Tattoos. Was für viele keine grosse Sache ist, war für ihn, den einstigen ultraorthodoxen Juden, ein Kraftakt. Er sagt, wer tätowiert ist, dürfe nicht auf einem jüdischen Friedhof begraben werden. Dass er mittlerweile 17 Tattoos hat, ist bezeichnend für den Weg, den Samuel Friedman geht.

Frontale Nahaufnahme von Samuel Friedman. Er hat ein breites Lachen im Gesicht.
Legende: Von der Ultraorthodoxie zum Agnostiker: Samuel Friedman ist jüdisch, aber heute säkular unterwegs. SRF

Er ist als drittes von fünf Kindern in Zürich Wiedikon aufgewachsen. Er habe eine schöne und behütete Kindheit gehabt. Seine Eltern seien gute Leute, betont er. Und dennoch war seine Kindheit anders. Sie war streng durchgetaktet vom Beten in der Synagoge, von den 613 Ge- und Verboten der Thora.

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Erste Zweifel hat Samuel Friedman bereits als Kind: «Du realisierst es gibt eine Grauzone»
Aus DOK vom 12.05.2022.
abspielen. Laufzeit 2 Minuten 56 Sekunden.

Schon als Bub merkte er, dass er anders leben möchte als seine Familie, dass ihn der Fussball mehr interessierte als das tägliche Beten. Obwohl er sogar Vorbeter in der ultraorthodoxen Gemeinde Agudas Achim wurde, wuchsen in ihm tiefe Glaubenszweifel.

Sein erster Akt des Ausstiegs: Er schneidet sich mit 11 Jahren die Schläfenlocken ab. Dieser Entscheid bringt einen Stein ins Rollen, der unaufhaltsam ist. Und doch dauert es noch viele weitere Jahre und viele persönliche Irrfahrten, bis er die Kippah, das letzte äussere Symbol der Zugehörigkeit zum jüdischen Glauben, ablegt.

Im Fussball, im Fanclub des FC Zürich, findet Samuel Friedman einen Religionsersatz. Und auch in der Gastronomie sucht und findet er Anschluss. Was er macht, macht er extrem. Er wirkt laut und bestimmt.

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Zu Besuch bei Mutter Zipora Friedman: «Ich bete, dass er nach Hause kommt.»
Aus DOK vom 12.05.2022.
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Die Eltern, besonders der Vater, haben Mühe mit seinem Ausstieg. Es vergehen Jahre, in denen viel gestritten und auch geschwiegen wird. Heute haben sich die Wogen geglättet.

Seine Mutter betont: «Er ist mein Junge und ich liebe ihn. Mit Gott muss er seinen eigenen Weg finden.» Und doch betet Zipora Friedman jeden Tag, dass ihr Sohn zurückkommen möge in die ultraorthodox jüdische Gemeinschaft.

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Samuel Friedman ist stolz auf seine Jüdische Identität, denn Jüdisch sein ist für ihn mehr als Religion.
Aus DOK vom 12.05.2022.
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Samuel Friedman hat mit seiner Religion gebrochen. In der ultraorthodox jüdischen Gemeinde ist er ein rotes Tuch. Und trotzdem ist er stolz, Jude zu sein. Mit diesem vermeintlichen Widerspruch lebt er.

Für ihn ist das Judentum eine Kultur, deren Traditionen und Bräuche für ihn sinnstiftend sind. Seine Tochter besucht eine liberale jüdische Schule. Einmal in der Woche trainiert er die G-Junioren des jüdischen Fussballvereins FC Hakoah.

Das Judentum hat viele schönen Seiten. Ich bin Jude, ohne an Gott glauben zu wollen. Ob man das darf oder nicht, ist mir egal. Es ist mein Weg.
Autor: Samuel Friedman

In der Schweiz leben etwa 18'000 Juden. Tendenziell nimmt die Zahl der jüdischen Gemeinde ab. Gründe dafür sind die Assimilation und viele Mischehen. Die jüdische Bevölkerung ist sehr heterogen. Einem Grossteil von ihnen sieht man nicht an, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehören.

Die grösste Gemeinde, rund 8000 Personen jüdischen Glaubens, wohnt in der Stadt Zürich. Davon sind etwa 2000 Personen ultraorthodox. Im Kern bestehen orthodoxe Überzeugungen aus einem absoluten Festhalten am göttlichen Ursprung der Thora sowie der mündlichen Lehre und dem Beachten der religiösen Lebenspraxis.

SRF 1, DOK, 19.05.2022, 20:05 Uhr

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