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Tagebuch: Auf der Gemmi
Aus Die Alpenreise vom 20.07.2018.
abspielen. Laufzeit 9 Minuten 25 Sekunden.
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Miss Jemimas Tagebuch Tag 5: Über die Gemmi

Miss Jemima erlebte die Gemmi als beeindruckenden Alpenpass – und Schauplatz einer innerbritischen Schneeballschlacht.

Miss Jemimas Tagebuch: Freitag, 3. Juli 1863 (Fortsetzung)

Um sieben Uhr kehrte unsere Gruppe samt Maultieren und Bergführern dem amüsanten Leben in Leukerbad den Rücken und wagte sich an den Aufstieg zur Gemmi. Unsere Fussgänger machten einen Abstecher, um eine katholische Messe mitzuerleben und eine sonderbare Aufreihung von ausgestopften Bären zu betrachten, die ein patriotischer Berner unter dem vorspringenden Dach seines Chalets ausgestellt hatte.

Die ersten fünf Kilometer unserer Expedition führten über grüne Weiden bis zum Fuss der senkrecht aufragenden Gemmi. Wir hatten Mühe, auf der kahlen, lotrechten Wand einen Pfad auszumachen, und fragten uns, wie wir auf den Gipfel gelangen sollten. Teilweise führte der Weg durch eine blosse, aus dem riesigen Kliff herausgehauene Rinne, gerade breit genug für ein Maultier. In jeder Zickzackkurve hingen wir fast über einem 150 Meter tiefen Abgrund.

Die schreckenerregende Macht dieser Felsen sorgte dafür, dass wir auf unserem Weg unter den hervorspringenden Felswänden bis ins Mark zitterten.

Diese Route zählt zu den beeindruckendsten Bergwegen; sie wurde vor hundert Jahren von einer Gruppe Tiroler angelegt. Ihre Windungen sind äusserst geschickt angelegt; an zahlreichen Stellen bildet der Fels einen Überhang über den Weg und ragt von oben weiter ins Tal hinein als von unten. Die schreckenerregende Macht dieser Felsen sorgte dafür, dass wir auf unserem Weg unter den hervorspringenden Felswänden bis ins Mark zitterten, da wir zwangsläufig an das Ende der Welt denken mussten.

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«Die Alpenreise» Tag 5: Gemmipass
aus WortSchatz vom 20.07.2018. Bild: wikipedia/Eduard Spelterini
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Jetzt hatten wir das gewundene Mittelstück bewältigt, der ernste Teil begann. An den gefährlichsten Stellen hatte man als Schutz eine niedrige Brüstung und ein Geländer errichtet. Hier ritten wir nicht weiter, da wir uns als Zweibeiner sicherer fühlten als als Sechsbeiner. Natürlich testeten wir auch das wunderbare Echo.

Als wir den Gipfel erreicht haben, begrüsst uns unser erstes Schneefeld als Lohn unserer Mühen. Hier unter der brütenden Julisonne überfielen uns zwei Mitglieder des Junior United Alpine Club mit einem Schneeballhagel.

Ode an die Gemmi

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«Streng lauscht die Gemmi einem lauten Ruf
In den sich viele Stimmen mischen
In wunderbarer Harmonie... sie reichen weiter,
Im düstren Hohlraum erwacht der wunderbare Klang
Luftiger Stimmen, bildet eine Symphonie
Schwach, weit entfernt, nah, tief, ernst und sublim.»

Wordsworth

Eigentlich hatten wir als Dank für ihre bisherigen Nettigkeiten sie mit einer Schneeballschlacht überraschen wollen ... Trotzdem hielten wir uns tapfer!

Unser Vergeltungsschlag zielte direkt aufs Herz, traf aber leider das Auge unseres galanten Professors, sodass es ihm den Atem verschlug. Sein «Glasauge» fiel zu seinen Füssen und rollte davon! Eine kurze Suche führte uns zum Rand der Schneewehe, dort lag das Monokel und wurde umgehend wieder korrekt platziert.

Zeichnung der Gemmi
Legende: srf / Thomas Cook Archiv, London

In Erwartung der Antwort auf unseren kühnen Angriff, zogen wir uns ins Arsenal zurück, um uns mit neuer Munition zu rüsten. Dort – darf man so etwas überhaupt aufschreiben? – fanden wir zwei, die zu Hause tapfere Verteidiger des schönen Geschlechts Englands sind, wie sie feige hinter Schirmen Deckung suchten!

Drei dieser früher achtenswerten und geachteten Fünfergruppe waren nun am Boden zerstört! Oh! Miss Mary würde dem Schirmhersteller Sangster bestimmt keine Referenz für die Dauerhaftigkeit seiner «rotatorischen Regenschirme» geben, Miss Sarah hat den zierlichen Schirmstöcken abgeschworen und Miss Eliza kann nicht länger stolz behaupten, dass ihr Schirm aus doppeltem braunem Twill in perfektem Zustand nach Hause zurückkehren wird.

Ach! Arme drei geschnitzte Schirmspitzen, die England so sorglos verlassen hatten!

Ach! Arme drei geschnitzte Schirmspitzen, die England so sorglos verlassen hatten! Wir schlossen unsere zerstörten Schirme und kehrten dem Kampfschauplatz den Rücken, um in Entzücken über die bunten Alpenkräuter und -blumen auszubrechen.

Das Königsblau des Enzians bildete einen schönen Kontrast zum Weiss der zarten Anemonenblüten. Blaue und weisse Vergissmeinnichts wuchsen in so grossen Polstern, dass sich alle Vergissmeinnicht-Liebhaber reichlich bedienen konnten. Wir pflückten diese Schönheiten, beklagten aber, dass wir so wenig von ihnen erhalten konnten. Selbst wenn wir sie pressen und trockenen würden, wäre dies nur ein fader Abglanz ihrer natürlichen Leuchtkraft.

Bildvergleich

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Legende:Der Blick von der Gemmi aus auf Leukerband hat sich in den letzten 155 Jahren ziemlich verändert...Armin Bayard / SRF

Als wir nun fast unseren höchsten Punkt auf der Gemmi erreicht hatten – über 2100 Meter und damit der höchste Punkt, den der Junior United Alpine Club bisher erreicht hatte – sah das Städtchen Leukerbad 600 Meter unter uns nur noch wie ein Beet voll Pilze aus, während in der Ferne die riesigen Gipfel des Monte-Rosa-Massivs, des Weisshorns, des Matterhorns und der Dent Blanche in ihrem «eisernen Winterpanzer» zum ersten und einzigen Mal sichtbar werden.

Audio
Gemmi: Schafe und Wanderer
aus Sinerzyt vom 20.07.2018. Bild: wikipedia/Davide Rüetschi
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Hiermit begann unser Abstieg, wir überquerten den Saumpfad entlang des tristen Daubensees – «ein perfektes Bild von Unrast, Trübsinn und Elend». Dieser Schwarzwassersee speist sich ausschliesslich aus der Schneeschmelze, ringsherum ist er von «dürren, nackten Kalksteinwänden umgeben, die selbst den zähesten Flechten keine Nahrung bieten». Nur der Wildstrubel unterbricht rechts das vorherrschende Graubraun mit den Schneemassen auf seinem Gipfel. Weder Vögel noch Insekten bevölkern anscheinend die Senken in dieser gottverlassenen Gegend.

Wir waren sehr erleichtert, als wir das einsame Gasthaus Schwarenbach in der Ferne erblickten und einige Anzeichen menschlicher Besiedelung wahrnahmen. Bei dieser kleinen Gaststätte machten wir Halt und verzehrten einen Mittagsimbiss. Melchior Anderegg war der erste Bergführer, der im Jahr 1856 den Altels als Führer von Mister Hinchliffe, Mitglied des anderen Alpine Club, bestiegen hatte. Heute wohnt er in diesem Chalet und verkauft hier seine Schnitzereien und Wildblumen.

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