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Mensch Das Rätsel der Selbstlosigkeit

Wir spenden nach Naturkatastrophen und führen alte Menschen über die Strasse. Doch warum helfen wir anderen – manchmal sogar ohne jegliche Rücksicht auf eigene Verluste? Verschiedene Wissenschaftsdisziplinen sind dem Phänomen auf der Spur.

Am 2. Januar 2007 wirft sich der New Yorker Wesley Autrey vor eine U-Bahn, um einen Mann zu retten, den er gerade mal ein paar Minuten kennt. Nach einem epileptischen Anfall war der Mann auf die Gleise gestürzt – kurz vor der Einfahrt der sich nähernden U-Bahn. Autreys zwei kleine Töchter, 4 und 6 Jahre alt, stehen fassungslos daneben. Autrey schafft es, den Mann so zwischen die Gleise zu drücken, dass die U-Bahn über die beiden wegrollt, ohne einen von ihnen ernsthaft zu verletzen. «Ich hatte keine Zeit zum Überlegen», meinte Autrey später. «Ich habe nur das getan, was jeder in meiner Situation getan hätte.» Aber hätte das wirklich jeder getan?

Foto von Autrey mit seinen Kindern auf der Strasse in New York
Legende: Wesley Autrey mit seinen zwei Töchtern und seinem Sohn in New York. Imago

Nicht nur Charles Darwin war überzeugt, dass selbstlose Menschen wie Autrey in der Evolution einen schweren Stand haben. Seine Devise war: Fressen oder gefressen werden. Deswegen war die Auffassung lange weit verbreitet, der erfolgreiche Mensch sei ein Egoist. Tatsächlich ist Egoismus leichter zu erklären als Altruismus. Evolutionsbiologisch gesehen überleben nur die Stärksten. Der rational denkende Mensch, der «Homo Oeconomicus» der Wirtschaftswissenschaften, hat nur seine eigene Gewinnmaximierung im Blick. Und dennoch spenden wir Blut, überweisen bei Naturkatastrophen Geld und stehen auf, wenn eine alte Dame den vollen Bus betritt. Seit den 70er Jahren versucht die Forschung, dieses auf den ersten Blick irrationale Verhalten zu erklären.

Der Selbstlosigkeit auf der Spur

Lange Zeit hat sich nur die Philosophie für unsere Selbstlosigkeit interessiert. Mittlerweile forschen auch Wirtschaftswissenschaftler, Biologen und Psychologen auf dem Gebiet. Die Neuropsychologin Grit Hein versucht an der Universität Zürich, dem menschlichen Altruismus auf die Spur zu kommen. «Die Antwort darauf, was altruistisch ist, hängt extrem davon ab, welchen Wissenschaftler Sie fragen», erklärt sie. «Für die Ökonomie und die Anthropologie steht das Ergebnis der Handlung im Vordergrund. Für Psychologen ist ein Verhalten nur dann altruistisch, wenn Altruismus auch der Grund des Handelns ist.»

Das heisst: Dem Ökonomen ist es egal, ob der kleine Junge der Dame nur über die Strasse hilft, weil er sich eine Belohnung erhofft – durch den Akt des Helfens handelt er altruistisch. Die Psychologin fragt nach der Motivation des Buben und erst wenn der das Wohlergehen der alten Dame zum Ziel hat, ist die Handlung wirklich selbstlos.

Altruismus im Hirn-Scanner

Doch wie findet man heraus, ob jemand altruistisch oder egoistisch handelt? Im Rahmen ihrer Forschung beobachtete Grit Hein Probanden während Gewissensentscheidungen im Hirn-Scanner. Sie sahen, dass einer anderen Person über Elektroden Schmerz zugefügt wurde und hatten die Möglichkeit, den Schmerz auf ihre eigenen Hände umzuleiten. Wenn sie sich nicht mit dem Schmerz des anderen befassen wollten, konnten die Probanden aber auch einen Film anschauen. So hatten sie die Möglichkeit, sich abzulenken und es bestand kein echter Grund, zu helfen. «Selbst in solchen Versuchsanordnungen sehen wir aber, dass Personen tatsächlich Dinge tun, die sie selbst schmerzen, um anderen zu helfen. Und sie helfen auch Leuten, die sie nicht kennen», erklärt die Wissenschaftlerin.

Grit Hein
Legende: Grit Hein forscht an der Universität Zürich zum Altruismus. Grit Hein

Warum wir selbstlos handeln und uns gar Schaden zufügen, selbst wenn wir denjenigen, dem wir helfen, nicht kennen – darauf hat die Forschung noch keine eindeutige Antwort. «Ein Ansatz ist, dass unser Altruismus an die Entwicklung von Empathie gekoppelt ist», erklärt Hein, «Wenn ich sehe, dass jemand Schmerzen hat, dann wird das von meinem Körper nachempfunden und ich möchte helfen.»

Auch die Erziehung hat einen grossen Einfluss auf unsere Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen und deshalb selbstlos zu handeln. «Die Erziehung spielt gerade im frühkindlichen Bereich eine grosse Rolle für die Entwicklung von Mitgefühl», meint Hein. Denn auf die Welt kommen wir als Egoisten – es ist uns egal, wie es unserer Mutter geht, Hauptsache, wir bekommen von ihr etwas zu Essen. In den ersten drei Lebensjahren lernen Kinder Mitgefühl durch die Zuneigung, die sie selbst erfahren und durch Beobachtung ihres Umfeldes.

Werden wir immer egoistischer?

Altruismus und unser Gehirn

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Einige Forscher haben einen Zusammenhang zwischen der Grösse gewisser Hirnareale und dem selbstlosen Handeln festgestellt. Unsicher ist aber noch, ob die Grösse der Gehirnareale uns selbstlos macht oder die Areale grösser sind, weil wir oft selbstlos handeln.

Wenn man nun aber von den Spekulationen der Banker mit fremdem Geld liest und an die zunehmende Individualität in unserer heutigen Gesellschaft denkt, könnte man den Eindruck bekommen, dass wir immer egoistischer würden. Grit Hein ist da anderer Meinung: «Wenn ich ans alte Rom denke oder ans Mittelalter: Wo bitte war da Altruismus? Ausgehend von dem Überschuss, den die Industrienationen heute erwirtschaften, können wir uns Altruismus eher erlauben als damals. Ich würde sagen, es obliegt einer Gesellschaft, Bedingungen zu schaffen, die es den Menschen erlauben, altruistisch zu handeln.»

Die Frage, ob wir nun egoistische oder selbstlose Wesen sind, ist also gar nicht so leicht zu beantworten. Klar ist: Beides ist im Menschen angelegt. Grit Hein sieht das ganz pragmatisch: «Die pessimistische Annahme ist, dass sich unter bestimmten Umständen jeder Mensch egoistisch verhält. Ich bin mir sicher, dass das so ist. Aber ich denke auf der anderen Seite auch, dass man unter gewissen anderen Umständen aus jeder Person die Selbstlosigkeit rauskitzeln kann.»

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