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Sommerserie «Pioniere» «...also ging ich nach Westafrika, um zu sterben»

Sommer 1893: Die 31-jährige Mary Henrietta Kingsley packt Bettlaken, Kleider, Stiefel, Bücher, Sammelbehälter für Fische und einen Revolver in einen Seesack. Sie steckt 300 Pfund in die Handtasche und reist auf den fernen Kontinent. Dort entwickelt sich die Autodidaktin zur angesehenen Ethnografin.

Ihr Leben war vorgespurt. Eine unverheiratete Frau wie Mary Kingsley hatte keine Wahl. Frauen ohne Ehemann starben im viktorianischen England schon in jungen Jahren den sozialen Tod. Ihr einziger Nutzen bestand darin zu dienen. So pflegte Kingsley zunächst die kranken Eltern. Nachdem diese im Jahr 1892 kurz nacheinander verstorben waren, hätte sie eigentlich zu ihrem Bruder ziehen müssen. Soweit die gesellschaftlichen Konventionen.

Schwarz-weiss-Porträtfoto von Mary Henrietta Kingsley.
Legende: Afrika-Pionierin: Mary Henrietta Kingsley war die Tochter eines Arztes und Nichte des Schriftstellers Charles Kingsley. Imago

Ein Glück, dass sich Kingsleys Bruder Charles unerwartet entschied, für Buddhismus-Studien nach Asien zu reisen: «Im Jahr 1893 gab es zum ersten Mal eine Zeit in meinem Leben fünf oder sechs Monate, die nicht bereits im Voraus verplant waren», erzählte sie. «Ich rang mit mir, was mit dieser Zeit anzustellen sei: ‹Geh und lerne die Tropen kennen›, sagte die Wissenschaftlerin in mir.»

Bildung war reine Männersache

Mary Kingsley hatte nie eine Schule besucht: Ihr Vater und die Gesellschaft befanden Bildung für Mädchen unnötig. Den grössten Teil ihres Wissens brachte sich Mary selbst bei. Während in die Bildung des Bruders grosszügig investiert wurde, war sie sich selbst überlassen: «Ich weinte bitterlich, dass man mir nichts beibrachte.» Schon als Kind las sie sich durch die väterliche Sammlung von Reiseliteratur und wissenschaftlichen Büchern.

Sie lernte viel und Vieles, von orientalischen Sprachen über Elektrotechnik bis zur Physik. Sie war eine Autodidaktin wie die meisten intelligenten Frauen ihrer Zeit, als solche aber in der wissenschaftlichen Gemeinde nicht anerkannt. Mit einer Ausnahme: Wer Expeditionen in bis dato unbekannte Regionen unternahm, fand auch ohne klassisch-akademische Ausbildung Gehör.

Ein Weltreich als Spielwiese

Das Weltreich von Königin Viktoria umfasste einen grossen Teil der Ozeane und Kontinente und es war von mehr Menschen bevölkert als je ein Land zuvor. Das britische Empire prägte Kontinente und Subkontinente von Europa bis Australien, von Asien bis Afrika. Und der Hunger nach Mehr war gross. Das Vereinigte Königreich wollte – wie andere Kolonialmächte auch – seinen Herrschaftsbereich weiter ausdehnen.

Eine Karte von Westafrika mit den Grenzen von 1898.
Legende: Reisen entlang der Küste von Westafrika: Die Karte zeigt die Ländergrenzen im Jahr 1898. www.loe.org / Wikimedia Commons

Immer gezielter wurde die Erforschung unbekannter Regionen vorangetrieben – aus militärischen und ökonomischen Gründen. Selbst private Expeditionen von selbständig und allein Reisenden waren deshalb von grossem politischem und militärischem Interesse. Und wer anschliessend über seine Erlebnisse und Entdeckungen berichtete – in Zeitschriften und Büchern – konnte zu Hause ein grosses Publikum erreichen und zu Anerkennung kommen.

Wissenschaftlich interessierte Frauen, die in England nicht studieren durften und – wenn unverheiratet – schon in jungen Jahren den sozialen Tod starben, nutzten diese Chance. Sie wählten ihre Reiserouten bewusst, erforschten Orte und Kulturen, die in Europa bisher unbekannt waren. Das galt etwa für die Asienspezialistin Isabella Bird, die 1891 als erste Frau in die Royal Geographical Society aufgenommen wurde und mit der sich Mary Kingsley verbunden fühlte. Und das ganz bestimmt auch für die Westafrika-Pionierin selbst, der zu Ehren 1901 die «Royal African Society» gegründet wurde. Nie zuvor hatte eine Frau derart entlegene Gebiete erkundet.

Konservativ gekleidet durch den Busch

Mary Kingsley reiste alleine und in jener Aufmachung, die genauso zu ihrem Markenzeichen werden sollte wie ihr trockener Humor, ihr Sprachwitz und die Fähigkeit über sich selbst zu lachen. Sie trug in den schwül-heissen Tropen, dasselbe wie im diesig-kühlen London: Steife bodenlange schwarze Wollröcke, geknöpfte Stiefel, hochgeschlossene dunkle Blusen und ein keckes Hütchen.

Eine Frau in Kleidung des späten 19. Jahrhundert in Grossbritannien.
Legende: Die Abenteurerin in der Kleidung jener Zeit. http://www.qub.ac.uk / Wikimedia Commons

«Du hast kein Recht, in Afrika in Sachen herumzulaufen, für die du dich zu Hause schämen würdest», schrieb sie in ihrem Buch «Reisen in Westafrika». Zudem eigne sich dieses Outfit für die Durchquerung tropischer Mangrovensümpfe und dichter Urwälder und schütze vor mancherlei Gefahren. Ihren Sturz in eine mit zugespitzten Pfählen versehene Grosswildfalle überlebte sie wohl tatsächlich nur wegen ihrer mehrschichtigen exotischen Kleidung: «Das sind so die Momente, in denen man die Segnungen eines guten festen Rocks wirklich zu schätzen lernt.»

Die zierliche Kingsley prägte das Bild der Briten von der schrulligen reisenden Jungfer. Sie erschien wie eine Karikatur und zelebrierte diesen Auftritt sehr bewusst. Denn die züchtige Kleidung bot ihr Schutz vor moralischer Diskreditierung in England. Und vor der Gefahr, als schrille Frauenrechtlerin diskreditiert und als Wissenschaftlerin nicht ernst genommen zu werden.

Erkundungen eines riesigen Gebietes

Kingsley unternahm zwei Reisen nach Westafrika und erkundete Regionen in Ghana, Kongo, Gabun, Nigeria und Kamerun. Offizielles Ziel war es, eine Sammlung von Fischen zusammenzustellen und das Religionssystem der Menschen zu erforschen. Doch in Wahrheit hatte sie zunächst nicht Fische und Fetische im Sinn. In Briefen an Freunde gestand sie, England aus einem anderen Grund verlassen zu haben: «…weil ich mich nicht mehr gebraucht fühlte, nachdem Vater und Mutter 1892 gestorben waren. Also ging ich nach Westafrika, um zu sterben.»

Doch statt zu sterben, lernte Kingsley die Tropen zu lieben. «Westafrika gefiel mir und war gut zu mir, und es war wissenschaftlich interessant – und es wollte mich auch nicht gleich umbringen», schrieb sie. Sie watete bis zum Hals im Schlamm durch die Mangrovensümpfe, durchquerte den Urwald und paddelte mit einer von ihr zusammengestellten Gruppe von Einheimischen den Ogowé-Fluss hinauf.

Alleine unter Kannibalen

Sie studierte die Kultur verschiedener Stämme und freundete sich mit den Fang an, einem Bantu-Stamm mit speziellen Vorlieben. «Die Fang sind Kannibalen, nicht wie viele andere Schwarze aus rituellen Motiven, sondern aufgrund einer Variante von gesundem Menschenverstand», hielt sie fest, «Menschenfleisch, versichert der Fang, lässt sich gut, sehr gut essen, und er wünscht sich, Sie würden auch einmal kosten.»

Historische Schwarzweiss-Aufnahme von Angehörigen des Stammes der Fang.
Legende: Eine Aufnahme von Fang-Angehörigen in Westafrika. The Victorian Web / Jacqueline Banerjee / «Reisen in Westafrika»

Kingsley hielt dies nicht davon ab, in Fang-Dörfern zu übernachten, immer offen für Unerwartetes, wie sie berichtete. «Als ich in der Nacht aufwachte, bemerkte ich in der Hütte einen üblen Gestank eindeutig organischen Ursprungs. Ich verfolgte den Gestank bis zu den vom Gebälk hängenden Beuteln. Ich nahm den grössten herab und schüttete den Inhalt in meinen Hut. Es handelte sich um eine menschliche Hand, drei grosse Zehen, vier Augen, zwei Ohren und andere Teile des menschlichen Körpers. Die Hand war frisch, die anderen Überreste so lala und verschrumpelt. Ich legte sie zurück und verschnürte den Sack wieder. Später erfuhr ich, dass die Fang zwar ihre befreundeten Stammesmitglieder essen, doch zur Erinnerung gerne ein kleines Stück von ihnen aufbewahren.»

Ruhm und Zuhörer in der Heimat

Als Mary Kingsley – nach der erfolgreichen Besteigung des über 4000 Meter hohen Kamerunbergs über eine bisher unbegangene Route – im November 1895 nach London zurückkehrte, wurde sie von Journalisten belagert. Die nächsten drei Jahre war Kingsley auf Vortragsreise im ganzen Land und berichtete jeweils vor grossem Publikum über das Leben in Afrika.

Von ihren beiden Reisen hatte sie 65 Fischarten und 18 Reptilien nach England mitgebracht und dem British Museum vermacht. Darunter bisher unbekannte Fischarten, von denen drei heute ihren Namen tragen: Ctenopoma kingsleyae, Mormyrrs kingsleyae, Alestus kingsleyae.

Mary Kingsley schrieb zwei Bücher über ihre Erlebnisse und Erkenntnisse in Westafrika, die zu Bestsellern wurden. Sie nutzte ihre Popularität, um sich für die Schwarzen einzusetzen. Zwar konnte sie sich – ganz Kind ihrer Zeit – nicht vorstellen, dass die Schwarzen sich selbst regierten und stellte den Herrschaftsanspruch Grossbritanniens nicht in Frage. Aber als Ethnografin warnte sie davor, die afrikanische Kultur zu zerstören. Und sie kritisierte die Verformung der Einheimischen durch christliche Missionare.

Einsam trotz grosser Erfolge

Nach dem anfänglichen Höhenflug in ihrem ursprünglichen Zuhause versank sie bald erneut in Depressionen und fühlte sich einsam unter den Menschen: «Ich bin eher ein Windstoss als ein menschliches Wesen», schrieb sie in einem Brief an einen Freund, «ich hatte nie ein persönliches Leben. Ich hatte immer irgendwelche lästigen Dinge zu tun. Ich selbst gehöre zur nicht-menschlichen Welt. Mein Volk sind die Mangroven, die Sümpfe, die Flüsse, das Meer.»

Mary Kingsley sollte Westafrika nicht wieder sehen. Sie starb am 3. Juni 1900 38-jährig in Kapstadt an einem Fieber. Hier pflegte sie im Zweiten Burenkrieg verletzte Soldaten und erkrankte an Typhus. Auf ihren Wunsch wurde sie im Meer bestattet.

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