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1989 – die Wende Stasi-Unterlagen sind eine Fundgrube für Geschichten über Mut

DDR-Bürgerrechtlerin. Nach der Wende Chefin der Stasi-Unterlagenbehörde. Politikerin: Das Thema «Mauer» zieht sich wie ein roter Faden durch das Leben von Marianne Birthler. Im Interview spricht sie über die friedliche Revolution, Freiheit und ihre Arbeit mit Stasi-Akten.

Was ist Ihnen vom 9. November besonders in Erinnerung geblieben?

Marianne Birthler: Ich bin Berlinerin, für mich war das ein unglaublicher Tag. Ich bin noch in derselben Nacht in den Westen gegangen, geradezu rübergespült worden. Ein noch aufregenderer Tag war für mich aber der 9. Oktober. Der 9. November gilt zwar weltweit als Symbol der Revolution, aber eigentlich war es anders: Es gab erst die Revolution in der DDR. Nur deswegen konnte die Mauer fallen.

Die berühmten Montagsdemonstrationen in Leipzig ...

Marianne Birthler

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Die Grünen-Politikerin war in den Jahren 2000 bis 2011 Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagenbehörde. Zu DDR-Zeiten war Marianne Birthler Bürgerrechtlerin.

Die Leute brauchten viel Mut, Demonstrationen waren natürlich verboten. Am 9. Oktober stand alles auf Messers Schneide: Die Staatsmacht war darauf vorbereitet, gegen die Demonstranten vorzugehen, die Krankenhäuser auf viele Verletzte. Nach zwei Tagen und Nächten mit zahlreichen Verhaftungen und Prügelszenen entspannte sich die Situation. Da hatten wir zum ersten Mal das Gefühl «Jetzt haben wir es geschafft».

Sind Sie im Nachhinein froh, dass es eine friedliche Revolution war?

Absolut, insbesondere in Anbetracht der Nachrichten, die uns heute aus aller Welt erreichen. Ich denke an den Arabischen Frühling, den Majdan. Daran, wie viele heute ihr Leben lassen müssen, weil sie für Selbstbestimmung und Freiheit sind.

Freiheit war Theorie

Bedeutete «Freiheit» für Sie damals das, was wir im Westen gelebt haben?

Wenn, dann nur theoretisch. Interessanterweise wurde der Begriff nicht so oft genutzt. Es ging um Selbstbestimmung, um Gerechtigkeit, Frieden, Reisefreiheit. «Freitheit» wurde als konservativer Begriff verstanden – auch für politisch links gerichtete Menschen in Westdeutschland.

Hatten Sie den Eindruck, dass es auf der anderen Seite mehr Lebensfreude gab?

Das würde ich nicht sagen. Wir haben ja bis zum Herbst 1989 – als ich in der Opposition aktiv war – auch sehr lebendig gelebt. Ich fand immer, wir hatten das lebendigere, mutigere, spannendere Leben, als die Leute, die uns bewachten.

Bespitzelt wird nicht

Sie beschreiben die DDR in Ihrer Biografie als «Bruchbude» und als «Zuhause».

Marianne Birthler steht am Mikrofon.
Legende: Marianne Birthler auf einer Demonstration im Wende-Jahr 1989. Wikimedia/Bundesarchiv Deutschland

Ich habe ja nichts anderes kennengelernt. Die DDR wurde kurz nach meiner Geburt gegründet. Und bis ich Anfang 40 war, habe ich mein Leben in der DDR verbracht. Aber es war kein schönes Zuhause. Heimat heisst ja nicht immer, dass man sich da wohlfühlt.

Haben Sie es jemals nachvollziehen können, was Menschen dazu gebracht hat, andere zu verraten?

Die einen hatten die moralischen Massstäbe nicht, die sie daran gehindert hätten. Oder sie haben es aus Angst getan, weil sie sich Vorteile versprochen haben, oder weil sie es prickelnd fanden mit dem Geheimdienst zusammenzuarbeiten. Manche auch, weil sie meinten, das sei dringend nötig für den Sozialismus. Das waren aber – glaube ich – gar nicht so viele. Insgesamt war in der Bevölkerung klar: Bespitzelt wird nicht. Wenn man sowas über jemanden wusste, hat man einen grossen Bogen um ihn gemacht.

In der Stasi-Unterlagen-Behörde mussten Sie sich viel mit menschlichen Abgründen beschäftigen. Ist Ihr Glaube an das Gute im Menschen erschüttert?

Das würde ich nicht sagen. Ich habe zwar nochmal neu lernen müssen, was Menschen unter Umständen anderen Menschen antun. Aber ich habe auch viele eindrückliche Geschichten von Menschen erfahren, die mutig waren und sich widersetzt haben.

3000 Mitarbeiter, um die DDR aufzuarbeiten

Wie muss man sich die Arbeit in der Stasi-Unterlagen-Behörde vorstellen?

Buchhinweis

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Marianne Birthler: «Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben: Erinnerungen». Hanser Berlin. 2014.

Am Anfang waren es über 3000 Mitarbeiter, als ich die Behörde abgab waren es noch 1600. Die Unterlagen werden nach wie vor für unterschiedliche Zwecke genutzt: am meisten von Privatpersonen, die ihre eigene Akte lesen wollen. Oder die der Eltern. Und sie werden noch ab und an gebraucht um festzustellen, wer für die Stasi gearbeitet hat. Ausserdem dienen sie Forschungszwecken – nicht nur zu Themen der Staatssicherheit. Da steht ja was über alle Bereiche des Lebens in der DDR: Wirtschaft, Kultur, Literatur, Sport. Ohne die Stasi-Akten ist kaum eine seriöse DDR-Forschung möglich.

Was haben Sie über sich selbst in den Akten gelesen?

Die Akte, die über mich angelegt worden war, ist noch im November 1989 vernichtet worden – das geht aus der Karteikarte hervor. Und ich hatte schon aus den Akten enger politischer Freunde erfahren, wer uns verraten hat. Es war niemand darunter, der mir sehr nah stand, ich hatte Glück.

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