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Gesellschaft & Religion «Die Börse ist kein moralfreies Gebiet»

Betrugsskandale, Börsencrashs, hemmungslose Gier: Kinofilme wie «Wall Street» und «Nick Leeson – Rogue Trader» stellen den Börsenbetrieb einseitig dar. Denn laut dem Philosophen Sven Grzebeta haben ethische Fragen im Alltagsbetrieb der Börse durchaus Platz.

Seit Mitte der 90er-Jahre ist «die Börse in den Chip gewandert» und «eine IT-Veranstaltung» geworden, sagt Sven Grzebeta. Der Philosoph arbeitet in Frankfurt am Main in der Finanzbranche. Die Anschaulichkeit des Ring-, Parkett- oder Präsenzhandels, wie das laute Treiben der Börsenplätze genannt wurde, ist Vergangenheit. Aber die ethischen Forderungen an die Branche haben sich nicht verschoben.

Wir alle sind verantwortlich

«Ethik und Ästhetik der Börse»

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Themenmorgen auf Radio SRF 2 Kultur. Die Sendungen «Kontext» und «Reflexe» fragen nach der Ethik an der Börse.

Die Börse sei ein «Gemeinschaftshandeln vieler Akteure», schreibt Grzebeta. Wem obliegt es also, beim Handeln an der Börse die Ethik nicht ausser acht zu lassen? «Allen Beteiligten», sagt der Philosoph, dessen kürzlich erschienene Dissertation «Ethik und Ästhetik der Börse» auch für ein breiteres Publikum gut zu lesen und zu verstehen ist.

«Alle Beteiligten», das meint auch uns, denn als Mitarbeiter von börsenkotierten Unternehmen, als Konsumenten, als Pensionskasseneinzahler, als Steuerzahler sind wir alle unweigerlich am Börsengeschehen beteiligt. Nicht zuletzt bildet unser Staat das letzte Sicherheitsnetz von Banken, die zu grosse Risiken eingehen. Aus liberaler Sicht ein Sündenfall.

Sozialethische Normen für die Börse

Sven Grzebeta widmet sich in seinem Buch ausführlich sozialethischen Normen für die Börse. Diese seien notwendig, denn das Börsengeschehen setze Regeln per se voraus, sagt Grzebeta im Gespräch mit SRF 2 Kultur: «Es gibt Vorschriften, und alle verlassen sich darauf, dass diese eingehalten werden. Ansonsten würde das börsliche Handeln gar nicht funktionieren.»

Die Börse habe auch einen Nutzen für die Gesellschaft. Ihr Zweck sei, für Unternehmen Kapital bereitzustellen und den Bürgern und Investoren rentable Kapitalanlagen zu ermöglichen: «Das bedeutet, dass das, was auf den ersten Blick bloss ökonomisch zu funktionieren scheint, zugleich für alle Beteiligten auch ethische Bedeutung hat. Denn sie ziehen einen Nutzen aus dem Börsenhandel und sind daran beteiligt.»

Es braucht neue Grundsätze

Allgemein akzeptiert sei im Börsenmilieu der Grundsatz, dass Handlungen in betrügerischer Absicht – zum Beispiel Insiderhandel – zu unterlassen seien. Das Legalitätsprinzip steht über allem, doch Sven Grzebeta entwickelt in seinem Buch weitere ethische Werte für die Börse:

  • Die Vermeidung systemischer Risiken: Ein Zusammenbruch des Bankwesens oder der Finanzmärkte wirkt sich auf alle Menschen unheilvoll aus.

Buchhinweise

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Marc Chesney: «Vom Grossen Krieg zur permanenten Krise», Zürich 2014.

Sven Grzebeta: «Ethik und Ästhetik der Börse», München 2014.

Michael Lewis: «Flash Boys, Revolte an der Wall Street», Frankfurt 2014.

Emile Zola: «Das Geld», Frankfurt 1995.

John Lanchester: «Kapital», Stuttgart 2012.

  • Den Abbau von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten zwischen den Börsenteilnehmern: Das bedeutet zum Beispiel gleiche Gebühren, gleich schnelle und gute Marktinformationen und gleich schnellen Handelszugang für alle.
  • Die Heilung ungerechter Verhältnisse zwischen Börsenteilnehmern und Nicht-Teilnehmern: Ist es ethisch vertretbar, Umweltstandards in der Produktion aus Renditegesichtspunkten minimal statt maximal anzusetzen oder Entlassungen aus Kostengründen auszusprechen?
  • Die Frage des destabilisierenden Potenzials der Finanzmärkte: Denn Probleme der Finanzbranche, dieses Kernbereichs unseres Wirtschaftssystems, schlagen auf andere Bereiche der Ökonomie durch.

Grzebetas ist zuversichtlich

Institutionelle Anleger seien ethischen Fragen gegenüber zurückhaltender als private Investoren, räumt Sven Grzebeta ein. Doch in den filmischen Darstellungen der Börse kann er bloss ein Zerrbild der tatsächlichen Börsenwelt erkennen.

Betrugsfälle und Insiderskandale seien die seltene Ausnahme, der Normalbetrieb sei wesentlich weniger spektakulär – und ganz und gar «kein moralfreies Gebiet».

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