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Gesellschaft & Religion Leben im Dorf des Vergessens: Neue Form der Demenzpflege

Ein Supermarkt gehört dazu, ein Café, eine Bibliothek und viele Vereine: In einem niederländischen Altersheimdorf für Demenzkranke sollen die Betroffenen ihr gewohntes Leben so gut wie möglich fortsetzen können – mit grösstmöglicher Freiheit.

Es ist kurz vor Mittag. Im kleinen Supermarkt des Altersheims Hogewij hat sich vor der Kasse eine kleine Schlange gebildet. «Das dauert diesmal aber sehr lange», reklamiert eine der sieben betagten Frauen, die zusammen mit ihren Helferinnen darauf warten, bis sie die Lebensmittel bezahlen können.

Für einen kurzen Moment fühlt sich die alte Dame ins «richtige» Leben zurückversetzt. Aber auch sie leidet an Gedächtnisschwund, genau wie die anderen 153 Frauen und Männer, die in diesem speziellen Altersviertel ihren Lebensabend verbringen. Der tägliche Gang zum Laden soll ihnen ein Stück Alltag vermitteln.

Wohngruppen statt Altersheim

Sobald die Seniorinnen die Essenswaren eingepackt haben, begeben sie sich unter Begleitung zurück in ihre Wohnungen. Im Gegensatz zu herkömmlichen Heimen leben die Bewohnerinnen und Bewohner in diesem Demenz-Quartier, das sich 15 Kilometer südlich von Amsterdam befindet, in Wohngruppen.

Insgesamt sind es 23 gemischte WGs, wobei jeweils zwischen sechs und acht Personen zusammenleben. Jede Unterkunft wird von mindestens zwei Fachkräften betreut. Aber jede Gemeinschaft lebt, kocht, putzt oder wäscht selbständig.

Von rustikal bis wohlhabend

Wer wo und mit wem zusammenlebt, wird vor dem Eintritt in Gesprächen mit den Angehörigen eruiert. Dabei ist aber nicht der Grad der Erkrankung ausschlaggebend für eine bestimmte WG ist, sondern der frühere Lebensstil eines Patienten. Deshalb gibt es in Hogewij Unterkünfte für Handwerker, die mit viel Holz und rustikalen Möbeln ausgestattet sind. Es gibt Wohnungen für Kunstgesinnte mit einem Klavier im Wohnzimmer und vielen Bildern an den Wänden.

Die WGs für Gläubige, die ihr früheres Leben nach Christus richteten, sind eher sparsam eingerichtet, in den Logis für Menschen aus den ehemaligen Tropenkolonien ist die Heizung immer ein paar Grad höher eingestellt und bei den WGs für die Gutbetuchten hängt ein Kronleuchter im Wohnzimmer. Nicht nur beim Einkaufen, auch beim Wohnen gilt, dass die vergesslichen Senioren nicht auf ihre bisher gewohnte Umgebung verzichten müssen.

Geschützte Umgebung

Die Wohnungen sind alle aneinander gebaut und bilden so die natürliche Aussengrenze des 15'000 Quadratmeter grossen Areals. Sämtliche Eingangstüren und die Terrassen, die es für jede WG gibt, sind nach innen gerichtet. Dadurch können die Bewohner, deren Pflege übrigens nicht teurer ist als in einem gewöhnlichen Altersheim, nach Lust und Laune im Quartier herumspazieren.

Durch das Viertel führen mehrere Strässchen, es gibt Plätze und Grünanlagen und überall stehen Bänke, wo sich die Senioren ausruhen können. Die Erfahrung zeigt, dass die in Hogewij wohnenden Menschen dank diesem Baukonzept viel öfter draussen sind als andere Altersheimbewohner. Übrigens besteht keine Gefahr, dass die verwirrten Menschen das Viertel unerlaubt verlassen könnten: Wer auf der einzigen Strasse, die zum Quartier hinaus führt, davonlaufen möchte, muss eine Schleuse passieren, die von einer Rezeptionistin bewacht wird.

Realitätsnahes Dorfleben

Aber der Kontakt mit «draussen» ist sehr erwünscht. So kommen viele freiwillige Helferinnen und Helfer in die Wohnungen um den Menschen beizustehen. Aber auch lokale Künstler sind in Hogewij gern gesehen. Auf dem Boulevard, wie die mitten durchs Quartier führende Hauptstrasse genannt wird, gibt es viele Schaufenster, wo sie ihre Werke ausstellen können.

Auf dem Boulevard wurde für viel optische Abwechslung gesorgt. In der Glastür des Coiffeursalons hängen bunte Models mit frechen Kurzhaarfrisuren. Und die Reparaturwerkstätte, wo die Reifen der Rollstühle aufgepumpt werden, befindet sich auf Augenhöhe hinter einem grossen Fenster.

Momente der Erinnerung

Auch das Vereinsleben kommt in diesem Demenz-Viertel nicht zu kurz. Jeweils am Donnerstagmorgen treffen sich die 15 Mitglieder vom «smartlappenkoor» (Schlagerchor). Sie sitzen an einem langen, ovalen Tisch, vor sich eine Tasse Kaffee und einen Ordner mit in grossen Lettern gedruckten Texten.

Manche fahren mit dem Finger Wort für Wort den Liedtexten nach, doch den Refrain schmettern alle zusammen auswendig, der ist ihnen geblieben. Die meisten würden die Strophen nach dem Singen gleich wieder vergessen, sagt die Dirigentin des Schlagerchors. Aber es gehe um die Freude im Moment, an Erinnerungen, die diese Lieder hervorrufen.

Unter dem Strich ziehen Heimleitung und Angehörige eine positive Bilanz dieses weltweit einzigartigen Demenz-Viertels. Und nicht nur sie: Untersuchungen zeigen, dass es auch den Bewohnerinnen und Bewohnern in diesem «Viertel des Vergessens» gut gefällt.

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