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Gesellschaft & Religion Kinder aus Tibet: Waisen, die keine waren

In den 1960er Jahren wurden angebliche Waisenkinder aus Tibet in die Schweiz geholt und damit vor den chinesischen Kommunisten «gerettet». Der Film «Tibi und seine Mütter» von Ueli Meier zeigt, dass diese vermeintliche Hilfe ein weiteres, dunkles Kapitel des Schweizer Pflegekinderwesens ist.

Als die ersten «Tibeterli» 1960 auf dem Flughafen Kloten landeten, war das Entzücken gross: Die Schweiz zeigte sich als humanitäres Land, das Waisenkinder aufnahm, die auf der Flucht vor den chinesischen Kommunisten ihre Heimat Tibet und ihre Eltern verloren hatten.

Tibi und seine leibliche Mutter Youden Jampa sitzen ihrer kargen Behausung.
Legende: Tibi und seine leibliche Mutter Youden Jampa in Indien. Tibifilm

Doch diese Selbstdarstellung mitten im Kalten Krieg war nur die halbe Wahrheit, wie der Kino-Dokumentarfilm «Tibi und seine Mütter» des Regisseurs Ueli Meier zeigt. Der Filmemacher porträtiert darin «Tibi», der 1963 als Siebenjähriger in eine Pflegefamilie in die Schweiz gekommen war und später als Erwachsener seine leiblichen Eltern in Indien suchte und fand.

Die «Waisen» hatten sehr wohl Eltern

Tibi Lhundub Tsering gehörte zu den 200 Kindern, die ein Industrieller aus Olten, Charles Aeschimann, zwischen 1961 und 1964 in die Schweiz geholt hatte. Für seine private Pflegekinder-Aktion hatte er sich mit dem religiösen Führer der Tibeter, dem Dalai Lama, persönlich abgesprochen.

DVD-Hinweis

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«Tibi und seine Mütter» von Ueli Meier. Praesens Film / Tibifilm, 2013.

Doch bald stellte sich heraus, dass die Kinder, die so ins Land geholt und als Waisen ausgegeben wurden, gar keine Waisen waren. Sie wurden vielmehr aus einem Kinderheim, das die älteste Schwester des Dalai Lama führte, in die Schweiz verschickt, um hier eine Ausbildung zu bekommen und dereinst als westlich gebildete Elite zurückzukehren. Im Fall von «Tibi» lag dafür allerdings kein Einverständnis seiner Eltern vor.

Dunkles Kapitel

Ueli Meier wirft mit seinem Film eine Reihe von Fragen auf, die brisanten Stoff für Historikerinnen und Historiker abgeben dürften: War diese private Pflegekinder-Aktion legal, wenn Kinder hier auf Wunsch des Dalai Lama aufgenommen und gar adoptiert wurden, ohne dass das Einverständnis der leiblichen Eltern vorlag?

Muss man von Kinderhandel sprechen, wenn Charles Aeschimann im Gegenzug aushandelte, dass er selbst zwei «Tibeterli» zur Adoption bekam? Und: Warum haben die Behörden in der Schweiz – wider besseren Wissens – das falsche Bild der Waisenkinder nicht korrigiert? Dies stellt ein weiteres dunkles Kapitel in der Geschichte des Schweizer Pflegekinderwesens dar.

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