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Gesellschaft & Religion Multikulti auf Zürichs Friedhöfen – aber ohne Dichtestress

Auf Zürichs Friedhöfen ist Dichtestress kein Thema: Hier ist Platz genug, die Belegung geht seit den 80er-Jahren zurück. Gleichzeitig ist die Friedhofskultur bunter geworden. Die gewachsene Vielfalt von Religionen und Kulturen belebt die Friedhöfe, sagt Christine Süssmann vom Zürcher Friedhof-Forum.

In Zürich beklagt man sich über Enge in Zügen und Bahnhöfen, beim Wohnen und Arbeiten. Wie viel Platz hat es in Zürich, um tot zu sein?

Christine Süssmann: Auf unseren Friedhöfen gibt es viel leeren Raum. In den 80er-Jahren waren die Friedhöfe voll, doch seither ist der Platzbedarf stetig zurückgegangen. Grund ist der Trend zum Gemeinschaftsgrab, das viel weniger Platz beansprucht.

Friedhof-Forum Zürich

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Das Friedhof-Forum der Stadt Zürich leistet individuelle Beratung und Öffentlichkeitsarbeit rund um die «letzte Reise». Um den Tod wieder sichtbar zu machen, brauche es Geschichten, Diskussionen, kulturelle Angebote, sagt die Leiterin Christine Süssmann.

Wie verändern die verschiedenen Religionen und Kulturen die Friedhofskultur in Zürich?

Für Muslime gibt es seit 2004 einen speziellen Friedhofsbereich auf dem Friedhof Witikon, das läuft sehr gut. Muslime wünschen, dass ihre Gräber nach Mekka ausgerichtet sind. Es gibt aber auch im allgemeinen Teil Gräber, die zufällig nach Mekka zeigen. Manchmal reicht es schon, den Kopf des Verstorbenen ein wenig zu drehen.

Auch der Einfluss der mediterranen Kultur ist auf unseren Friedhöfen sichtbar. Typisch sind zum Beispiel Fotos auf Grabsteinen. Die sind aber inzwischen auch bei Zürchern sehr beliebt.

Abdankungen von Hindus sind ein Ereignis: Oft kommen viele Leute, es dauert lang, man isst zusammen. Manchmal möchte die Familie bei der Kremation anwesend sein, und der älteste Sohn drückt den Startknopf – so wie er zuhause das Feuer angezündet hätte.

Für uns Nordeuropäer ist die Trauer eine stille Angelegenheit. Gibt es da auch mal Konflikte?

Beitrag zum Thema

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«Memento Mori» (Passage vom 30.9.2009)

Ein Besuch auf dem Basler Hörnli, dem grössten und ältesten Zentralfriedhof der Schweiz. Die Radiosendung von von SRF-Redaktorin Maya Brändli wurde mit dem «featurepreis'10» ausgezeichnet.

Eigentlich nicht. Migrantinnen und Migranten beleben unsere Friedhöfe. Für manche haben Bestattungsrituale einen grossen Stellenwert, vor allem wenn sie stark mit ihrer Religion verbunden sind. Aber es gibt schon Leute, die sich an andersartigen Grabmälern stören, zum Beispiel weil sie diese kitschig finden. Umgekehrt finden Leute aus anderen Kulturen unsere Gräber manchmal sehr nüchtern.

Also eher eine Belebung unserer Friedhofskultur?

Ja richtig. Ich weiss zum Beispiel von einer Osteuropäerin, die am Grabstein ihres Mannes ein Fächlein hat anbringen lassen. Er hat gerne geraucht, und nun geht sie regelmässig hin, zündet eine Zigarette an und legt sie ihm da hinein. Wir finden das vielleicht komisch, aber für die Frau ist das wichtig.

Wie gehen die Friedhofsverwaltungen mit den Bedürfnisse anderer Religionen um?

Das ist ihre Aufgabe, sie zu respektieren. Mit der Bundesverfassung von 1874 ist das Bestattungswesen ja von den Kirchen an die politischen Gemeinden übergegangen. Seither bekommt jede Person eine Bestattung. Zuvor wurden zum Beispiel die Katholiken ausgegrenzt; Menschen, die Suizid begangen haben, konnten nicht auf den Friedhöfen bestattet werden. Von da an war Schluss mit der Ausgrenzung.

Viele Menschen meinen noch immer, der Friedhof sei ein Ort der Kirche. Manche möchten ihre Asche ausserhalb des Friedhofs verstreuen, weil sie mit der Kirche nichts zu tun haben wollen. Dabei ist der Friedhof ein weltlicher Ort.

Auf Friedhöfen hat man noch immer den Eindruck einer grossen Normierung. Warum braucht es das?

Reihengräber
Legende: Viele finden heute Reihengräber zu monoton und ziehen ein Gemeinschaftsgrab vor. Keystone

Es gibt beide Sichtweisen. Es gibt das Bedürfnis nach mehr Individualität, nach dem Aufbruch der strengen Reihengräber. Anderen gefällt die Schönheit der kleinen Unterschiede in einer Reihe mit einheitlicher Form. In der früheren Grabmalverordnung war der Grundtenor: alle gleich, möglichst unauffällig, nichts durfte stören. Wir haben diese Bestimmungen gelockert. Was bleibt sind die Masse. Die muss man beschränken, so wie man Reihenhäuser beschränkt. Aber heute sind viele Materialien, Farben und Formen möglich.

Das entspricht dem Bedürfnis nach Individualität. Auf der anderen Seite boomen die Gemeinschaftsgräber, wo die Toten in der Gemeinschaft «verschwinden». Wie passt das zusammen?

Der Trend zu Gemeinschaftsgräber hat viele Gründe: Die Gesellschaft ist mobiler, viele Angehörigen wohnen nicht mehr in der Nähe und können die Gräber nicht pflegen. Manche finden Reihengrabfelder monoton und ziehen deshalb das Gemeinschaftsgrab vor. Vor allem aber stirbt derzeit jene Generation, die niemandem zur Last fallen will.

Gretchenfrage: Ist Joggen auf dem Friedhof pietätlos?

Ich finde nicht. Aber es ist verboten in Zürich. Was ist «Pietät»? Ein «Gummibegriff».

In welche Richtung wird sich die Friedhofskultur verändern?

In diesem Bereich verändern sich die Dinge nur sehr langsam. Ich würde mir wünschen, dass die Lebenden und die Toten wieder mehr zusammen kommen.

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