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Gesellschaft & Religion Schweizer Hilfe im internationalen Ghetto in Budapest

Agnes Heller war 15 Jahre alt, als ihr Vater 1944 in Budapest Opfer der Gestapo wurde. Sie und ihre Mutter erhielten dank der Unterstützung des Schweizer Diplomaten Carl Lutz einen sogenannten «Schutzpass» und eine Unterkunft im internationalen Ghetto. Dass sie Auschwitz entkam, war Zufall.

Eines Tages, so erzählt Agnes Heller in ihrer Biografie «Der Affe auf dem Fahrrad», sei ihr Vater am Morgen aus dem Haus gegangen und nie mehr zurückgekommen. Das war 1944. Die Deutsche Wehrmacht war im Frühling jenes Jahres in Ungarn einmarschiert. Die Nationalsozialisten hatten innert kürzester Zeit ihre Terrorherrschaft installiert. Ihr Vater wurde auf der Strasse verhaftet und in die Gestapo-Zentrale im Hotel «Majestic» gebracht. Agnes hatte ihn nie mehr gesehen.

Diplomatischer Widerstand

Dokumentarfilm über Carl Lutz

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SRF 1 zeigt den Dokumentarfilm «Carl Lutz – Der vergessene Held» von Daniel von Aarburg am 28. August 2014 um 20:05 Uhr.

Die Nationalsozialisten hatten innerhalb weniger Monate nach der Machtübernahme 440'000 Jüdinnen und Juden deportiert und umgebracht. Hitlers Schergen begannen mit ihren Razzien auf dem Land und in den Kleinstädten und griffen dann auf Budapest über. Die Juden, die noch am Leben waren, mussten ihre Wohnungen räumen und ins jüdische Ghetto ziehen.

Der Schweizer Vizékonsul Carl Lutz und der schwedische Diplomat Raoul Wallenberg versuchten, diesen mörderischen Übergriffen etwas entgegenzusetzen. Dabei wurden sie vom päpstlichen Nuntius unterstützt. Sie richteten im Umfeld der Gesandtschaften ein internationales Ghetto ein, in dem Juden Unterkunft und Schutz finden sollten. Dafür erwirkten sie beim Organisator des Holocaust, bei Adolf Eichmann, Zehntausende von sogenannten «Schutzpässen». Diese sollte es den verfolgten Juden ermöglichen, nach Palästina auszureisen.

Carl Lutz am Schreibtisch
Legende: Als Botschaftsangestellter rettete Carl Lutz still und leise das Leben von 50'000 bis 70'000 Juden. SRF

Internationales Ghetto

Auch Agnes Heller und ihre Mutter hatten von Carl Lutz einen solchen Pass bekommen. Dafür sei sie heute noch dankbar, sagte sie in einem Gespräch im Mai 2012 in Budapest gegenüber Radio SRF 2 Kultur. Vorteilhaft sei gewesen, dass sie und ihre Mutter in einem der «geschützten» Häuser im Internationalen Ghetto untergekommen sei. Hier wohnten auch ausländische Botschaftsangestellte. Diese konnten den Ort verlassen und Besucher empfangen.

Über solche Aussenkontakte gelangten immer wieder wichtige Informationen zu den verfolgten Juden. Auf diese Weise erfuhren Agnes Heller und ihre Mutter von geplanten Razzien. Sie versuchten dann, sich aus dem internationalen Ghetto hinaus zu stehlen. Dabei versteckten sie den «Judenstern» auf ihrer Kleidung und mischten sich unter die Passanten, die beim Tor ein- und ausgingen.

«Schutzpass» mit beschränkter Wirkung

Doch der Pass sei keine Garantie zum Überleben gewesen, sagt Agnes Heller. Juden wurden auch hier aus den Häusern geholt und deportiert. Nicht von der Gestapo selbst, sondern von den ungarischen Pfeilkreuzlern, die sich ganz in den Dienst der Nationalsozialisten gestellt hatten.

Dabei handelte es sich um die Anhänger einer rechtsnationalen und antisemitischen Bewegung, die ihre Mitglieder aus den unteren sozialen Schichten rekrutierte. Agnes Heller erinnert sich, wie die Pfeilkreuzler Juden aus dem internationalen Ghetto an die Donau getrieben und dort erschossen haben. Ihre Leichen wurden vom Fluss fortgespült.

Dank einer Laune der Mörder überlebt

Audio
Agnes Heller: «Wie konnte Auschwitz geschehen?»
01:54 min
abspielen. Laufzeit 1 Minute 54 Sekunden.

Die 15-jährige Agnes Heller stand selbst auf der Abschussliste. Zweimal entkam sie einer Erschiessung, weil die Pfeilkreuzler es sich plötzlich anders überlegt hätten. Wenn die Massenerschiessungen zu anstrengend geworden seien und sie keine Lust mehr dazu gehabt hätten, so legt die prominente Philosophin im Gespräch mit SRF 2 Kultur dar, hätten sie die Juden wieder ins internationale Ghetto zurückgeschickt. Die Opfer waren diesen Launen völlig ausgeliefert. Sie waren ausgehungert und apathisch und nicht mehr in der Lage, sich zur Wehr zu setzen.

Tausenden von Juden gelang es schliesslich dank der Schutzpässe, in ein neutrales Land oder nach Palästina auszureisen. Doch aufgrund der Schilderungen von Agnes Heller wird klar, dass der Schutzpass keine Garantie war, am Leben zu bleiben.

Ein Leben für die Philosophie

Als unmittelbar Betroffene hat sie als junge Frau viel darüber nachgedacht, wie es zu Auschwitz hatte kommen können. Diese Frage habe sie schliesslich auch dazu bewogen, nicht Chemie, sondern Philosophie zu studieren. So wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg Schülerin des bekannten ungarischen Philosophen Georg Lukacs. Sie trat in die kommunistische Partei ein. Nach dem Ungarnaufstand 1956, der von den Sowjets niedergeschlagen wurde, fiel sie als «Konterrevolutionärin» in Ungnade. Sie wurde aus der Partei und dem Wissenschaftsbetrieb ausgeschlossen. Sie durfte nicht mehr publizieren, verlor ihren Pass und konnte nicht mehr reisen. Erst spät wurde sie rehabilitiert.

Agnes Heller lehrte während vielen Jahren im Ausland, so an der La Troube University in Melbourne. Ab 1987 übernahm sie den Lehrstuhl der «Hanna Arendt Professur» der New School for Social Research in New York. Seit Kurzem lebt die 85-Jährige wieder in Budapest, an der Donau, dort, wo sie vor 70 Jahre nur knapp dem Tod entkam.

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