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Umgang mit Traumata Der Mensch ist darauf angelegt, Katastrophen zu überleben

Tropensturm in Florida, Terroranschlag in London, Erdbeben auf Ischia: Katastrophen lassen Überlebende oft traumatisiert zurück. Notfallpsychologe Urs Braun erklärt, wie man das Unbegreifliche begreiflich macht.

SRF: Momentan jagt eine Naturkatastrophe die nächste. Als Notfallpsychologe betreuen Sie Menschen nach solch einschneidenden Erlebnissen. Wie helfen Sie?

Urs Braun: Das Hauptprinzip ist, Menschen nicht alleine zu lassen. Man bringt sie an einen sicheren Ort, weg vom Ereignisplatz, versucht ihnen Informationen zugänglich zu machen und den Kontakt mit Angehörigen herzustellen.

Als Notfallpsychologe muss man die Offenheit und Unklarheit solcher Ereignisse aushalten können und den Betroffenen mit der eigenen Ruhe beistehen.

Das Hauptprinzip ist, Menschen nicht alleine zu lassen.

Zur Person

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Urs Braun ist Psychotherapeut und zertifiziert in Notfallpsychologie. Er arbeitet als Leitender Psychologe in der Psychiatrie St. Gallen Nord.

Was geschieht mit einem Menschen in einer solchen Situation?

Eine Kollegin hatte es mal so beschrieben: Stellen Sie sich vor, Sie haben Zuhause einen grossen Wäscheschrank, in dem alle Dinge schön eingeordnet liegen.

Nun kommt ein Erdbeben, ihr Wäscheschrank fällt um und mit ihm alle Kleider raus. Sie stellen ihn zwar wieder auf, aber die Wäsche liegt durcheinander am Boden. So etwa fühlt sich ein plötzlich eintretendes Ereignis an – alles, was vorher geordnet war, liegt nun in Chaos.

Und an dieser Stelle beginnt Ihre Hilfe zur Verarbeitung?

Ja. Als Notfallpsychologen versuchen wir Ordnung in das Chaos des Erlebnisses zu bringen. Wir helfen das Unbegreifliche begreiflich zu machen. Es ist dabei wichtig, dass man die Dinge nicht beschönigt, sondern direkt beim Namen nennt.

Wir helfen das Unbegreifliche begreiflich zu machen.

Wir Menschen sind Kontrollfreaks. Wenn wir die Kontrolle über uns und unsere Emotionen zurückerlangen, sinkt automatisch das Stressniveau.

Der Sinn des Gesprächs ist also, dass das Ereignis einen nicht mehr überflutet, sondern die Emotionen wieder selbst reguliert werden können.

Sendung

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Stressbewältigung ist am Sonntag Thema im «Tatort»: Ein Unbekannter springt vor einen Fernbus. Der vermeintliche Selbstmord weckt beim Buschauffeur – einem ehemaligen Lokführer – traumatische Erinnerungen an Schienensuizide. 17.9.2017, 20.05 Uhr, SRF 1.

Wie reagieren Menschen längerfristig auf diese Grenzerfahrungen?

Die Stressverarbeitung ist sehr individuell. Wir wissen aber, dass bei 70 Prozent aller Betroffenen mit starken Reaktionen innerhalb von vier bis sechs Wochen mit einer Normalisierung zu rechnen ist.

Wir Menschen sind also enorm stabil konstruiert und können solche Belastungen auch ohne psychologische Hilfe verkraften. Wir sind biologisch quasi darauf vorbereitet, Stress zu managen.

Welche Art von Ereignissen erleben Menschen als besonders belastend?

Naturereignisse haben generell ein kleineres Belastungspotenzial. Gesetzt, dass Ordnung und Struktur schnell wiederhergestellt werden können.

Nach Katrina 2005 in New Orleans zum Beispiel wurde über Jahre keine Normalität wiederhergestellt. Damit stieg die Belastungsrate für die Bevölkerung massiv an.

Wenn wir die Kontrolle über unsere Emotionen zurückerlangen, sinkt automatisch das Stressniveau.

In Mitteleuropa erleben nur etwa vier Prozent der Menschen nach einer Naturkatastrophe eine posttraumatische Belastungsstörung.

Beim Verlust einer Bezugsperson oder schlimmstenfalls dem eigenen Kind ändert sich dies hingegen drastisch. Da liegt die Quote zwischen etwa 10-20 Prozent. Gewaltverbrechen und Krieg sind für den Menschen noch schwieriger zu verarbeiten. Dort liegt das Potenzial an einer Belastungsstörung zu erkranken zwischen 20-30 Prozent.

Was macht die Wiederholung eines Erlebnisses bei Menschen etwa in der Feuerwehr, der Polizei oder im öffentlichen Verkehr aus? Kann man sich Immunität antrainieren?

Der Mensch kennt Gewöhnung aus seinem Alltag: Sieht man ein furchtbares Bild zum ersten Mal, dann ist das schrecklich. Wird man aber immer wieder mit ihm konfrontiert, dann schwächt sich dieser Effekt massiv ab.

Als Psychologe muss man aufpassen, sich mit den Betroffenen nicht zu identifizieren.

Einsatzkräfte oder etwa Lokführer hingegen, welche immer wieder mit sehr hoch belastenden Situationen konfrontiert sind, haben generell ein erhöhtes Risiko, auch an dieser Belastung zu erkranken. Es würde dem menschlichen Wesen jedoch widersprechen, sich dagegen emotional immun zu machen. Wir würden damit die Fähigkeit verlieren uns empathisch einzufühlen.

Müssen Sie selbst sich denn nicht immunisieren gegenüber den Schrecken, mit denen Sie immer wieder konfrontiert werden?

Man differenziert hier zwischen Empathie und Gefühlsansteckung. Empathie ist in unserem Beruf enorm wichtig, vor der Gefühlsansteckung müssen wir uns hüten.

Als Psychologe muss man aufpassen, sich mit den Betroffenen nicht zu identifizieren. Denn durch eine Gefühlsansteckung werden wir selbst handlungsunfähig, indem wir die Emotionalität des Betroffenen übernehmen, als ob wir dasselbe erlebt hätten.

Das Gespräch führte Olivia Röllin.

Sendung: SRF 1, Tatort, 17.9.2017, 20.05 Uhr

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