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Alarmismus Uns geht's besser denn je. Wieso nehmen wir das nicht wahr?

Ob US-Wahlen oder Brexit, Klimakonferenz oder AHV-Finanzierung, sofort bricht in der Öffentlichkeit Alarmstimmung aus. Warum blenden wir so oft unseren Fortschritt aus?

  • Auf der Welt hat sich vieles zum Besseren verändert, trotzdem prägen Begriffe wie Alarmismus und Katastrophismus den Zeitgeist.
  • Unübersichtliche Zeiten können positiv, aber auch beängstigend sein. Es kann Kreativität aufkommen, aber auch der Drang nach Einfacheit und somit eingängigen Erklärungen.
  • Smartphones als ständige Begleiter verzerren die Wahrnehmung der Relevanz von Nachrichten.
  • Das Gefühl von politischer Ohnmacht äusserte sich in der Wahl der extremen Rechten.

Eine Fülle von Daten zeigt, dass sich sehr vieles zum Besseren verändert hat: extreme Armut, Kindersterblichkeit, Analphabetismus nehmen seit Jahrzehnten ab, Lebenserwartung, Demokratisierung und Wohlstand steigen.

Doch Kommentare in Online-Medien, Leserbriefe und populistische Bewegungen belegen: Viele Menschen fürchten sich wie die Gallier in «Asterix» davor, dass ihnen der Himmel auf den Kopf fällt. Begriffe wie Alarmismus und Katastrophismus scheinen treffende Befunde zum Zeitgeist.

Unsere Welt in Daten

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Die Webseite von Max Roser (University of Oxford) dokumentiert in Grafiken die positiven Entwicklungen über die Jahrhunderte:

Leben in unübersichtlichen Zeiten

Wollen wir vor allem das Schlechte sehen? Historikerin Gisela Hürlimann von der ETH Zürich verneint: «Der Mensch will sich Übersicht schaffen. Dann ist er oder sie manchmal auch bereit, eingängige Erklärungen anzunehmen.»

«Dass wir in unübersichtlichen Zeiten leben, kann durchaus kreativ, anregend und positiv sein und eine Vielfalt an Entfaltungsmöglichkeiten hervorbringen. Es kann aber auch beängstigend wirken», erklärt Hürlimann.

Push-Nachrichten hämmern die News in den Kopf

Dass die Reaktionen etwa auf die Wahl des US-Präsidenten in Europa so heftig sind, führt Hürlimann auch auf die Vernetztheit der Welt zurück: «Vor 30 Jahren hätte wohl niemand vorausgesagt, dass ein Telefon zum wichtigsten Computer wird.»

Das Smartphone sei unser ständige Begleiter, so Hürlimann. «Es ist der Ort, wo dauernd die Push-Nachrichten und die Twitter- und Facebook-Meldungen eintreffen. Sie hämmern einem die News in den Kopf und lassen einen glauben, das sei relevant und gar wichtiger als die Nachricht über die neueste Sparrunde des Kantons, in dem man lebt. Es mag kulturpessimistisch klingen, aber ich sehe da eine gewisse Verschiebung der Wirklichkeit.»

Angst vor Wohlstandsverlust

Warum ist uns nicht bewusst, dass sich sehr vieles verbessert hat? Weshalb gehen wir nicht abgeklärter mit Nachrichten um? Ständerätin Karin Keller-Sutter (FDP, SG) vermutet, dies habe mit unserem Wohlstand zu tun, den wir nicht verlieren wollen.

«Wenn man den Wandel wahrnimmt und das Gefühl hat, er könnte das eigene Leben destabilisieren, den Wohlstand und den Arbeitsplatz gefährden, erlebt man das vielleicht als Bedrohung und hat einen natürlichen Reflex, nämlich die Selbstverteidigung.»

Die Sorgen der Bevölkerung aber als Alarmismus zu bezeichnen, sei falsch, sagt Keller-Sutter: «Man muss aufpassen, dass man nicht einfach die Populismus-Keule schwingt. Weil es offensichtlich eine Schicht von Menschen gibt, die sich in irgendeiner Art infrage gestellt fühlt. Das kann man nicht einfach beiseiteschieben.»

Veränderungen, die Angst machen

Nationalrat Cédric Wermuth (SP, AG) zweifelt daran, ob die mediale Öffentlichkeit tatsächlich der Empörung der öffentlichen Meinung entspricht. «Wir haben in den letzten 30 Jahren eine gesellschaftliche Bewegung erlebt, die versucht hat, die Gesellschaft stärker über Angst und Unsicherheit zu prägen», so Wermuth.

«Die Menschen spüren das. Sie spüren die Verlagerung der Lebenskosten von Kapital zu Arbeit, die steigenden Krankenkassenprämien und Mieten. Es gibt reale Veränderungen, die den Leuten Angst machen.»

Diese Empörung ist schwierig zu durchbrechen

Zurzeit müssen wir uns einer Globalisierung hingeben, die wir politisch nicht mehr gestalten können, sagt Wermuth.

«Dadurch entsteht ein Gefühl der politischen Ohnmacht. Das äussert sich in der Wahl der extremen Rechten. Man sucht nach Halt in einer Zeit der Unsicherheit und der Unklarheit darüber, wie die Welt sich wandeln wird. Die Bewirtschaftung dieser Empörung ist schwierig zu durchbrechen», erklärt er weiter.

Mehr Ruhe und Gelassenheit

Wermuth nennt aber auch einen Verbesserungsvorschlag: «Da wäre die Politik – ich nehme mich selbst nicht aus – etwas mehr in der Verantwortung, zu sagen: Halt mal, wir müssen uns die Fragen etwas ruhiger, etwas vernünftiger stellen.»

Etwas mehr Ruhe und Gelassenheit, etwas mehr Vernunft, dem stimmt auch Karin Keller-Sutter zu. Das sind taugliche Vorsätze für 2017.

Sendung: SRF 2 Kultur, Kontext, 29.12.2016, 9:02 Uhr.

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