Sie werden fieberhaft gesammelt, getauscht und eingeklebt: die «Bösen», die besten Schwinger der Schweiz.
Die starken Arme vor der breiten Brust verschränkt: So posieren Glarner Matthias, Stucki Christian, Wenger Kilian und seine Kollegen auf Millionen von Abziehbildchen und warten darauf, ihren Platz im Schwingeralbum einzunehmen.
Schwinger sind Berühmtheiten geworden. Idole zum Sammeln. Promis in den People-Spalten. Werbebotschafter, digitale Persönlichkeiten, Social-Media-Influencer, kurzum: Stars unserer Zeit.
Vom Sägemehl auf den roten Teppich
Ganz vorne dabei ist Remo Käser. 44 Kränze hat der Berner erschwungen. Der Königstitel fehlt ihm noch. Dafür ist der gelernte Spengler ungekrönter König der Selbstvermarktung.
Mehr als 22'800 Menschen folgen dem 22-Jährigen auf Instagram, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen, über 17'000 auf Facebook, Link öffnet in einem neuen Fensterim Browser öffnen. Bei den «Swiss Influencer Awards» 2019 erreichte er die Top 3 in der Kategorie Sport.
Zu Käsers Sponsoren gehören eine Automarke, ein Uhrenhersteller und ein Grossverteiler. Ein Schwinger, der Werbung macht: lange absolut tabu, heute mehr oder weniger akzeptiert. Auch wenn nicht alle Fans und Kämpfer mitmachen.
Der Schweizer Nationalsport hat sich gewandelt – äusserlich zumindest. Im Kern ist er jedoch geblieben, wie er war: «Ein Schwingfest wird heute noch genau gleich abgehalten wie vor 40 oder 50 Jahren», sagt Manuel Röösli, Redaktionsleiter der Schwingerzeitung «Schlussgang».
Das Schwingen bewegt die Massen
«Was sich markant verändert hat, ist das Drumherum. Die Veranstaltungen zum Beispiel ziehen mehr Besucher an», meint Röösli, der den Schwingsport seit 25 Jahren verfolgt.
Das Publikum sei heute zudem stärker durchmischt: «Waren die Besucher früher hauptsächlich männlich, sind heute an den Schwingfesten auch viele junge, urbane Frauen anzutreffen.»
Dass das Schwingen die Massen bewegt, hat laut Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber von der Universität Basel viele Gründe.
Zum Beispiel gab es früher gesellschaftliche Grenzen, die heute locker überschritten würden: «Wer früher ins Opernhaus ging, ging nicht an Openairs. Wer an ein Schwingfest ging, ging nicht an die Street Parade.»
Heute Hardrock, morgen Schwingen
Das habe sich massiv verändert. «Man kann gut heute am Hardrock-Openair und morgen am Schwingfest sein», so Leimgruber. «Für die Event-Gesellschaft von heute ist das kein Problem mehr. Es zählt das Event, das Spektakel.»
Ein Event wird auch das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest, das nächstes Wochenende stattfindet. Wenn die Schwinger ihren König krönen, werden die 56'500 Plätze in der Arena in Zug besetzt sein. Rund 350'000 Besucherinnen und Besucher werden auf dem Festgelände erwartet – und gegen eine Million Zuschauer vor den Bildschirmen.
Das «Eidgenössische» wird alle Rekorde brechen, was die öffentliche Aufmerksamkeit betrifft. Die Popularität des Hosenlupfs hat längst das Interesse der Werbeindustrie geweckt. In der Folge begann der eidgenössische Schwingerverband vor etwa 20 Jahren, das absolute Werbeverbot zu lockern.
In der Arena, dem innersten Schwinger-Heiligtum, ist Werbung zwar nach wie vor verboten. Keine Sponsorenbanner, keine Werbeaufschriften «auf Mann», sprich auf dem Wettkampf-Tenue.
Ausserhalb der Arena ist heute aber vieles möglich – solange die Sportler ihre Verträge beim Verband deponieren und zehn Prozent ihrer Werbeeinnahmen für den Sportnachwuchs abgeben.
Viel Geld für die bösesten der Bösen
Den Einzug von Kommerz sieht das Schwingervolk zwiespältig, wie Manuel Röösli sagt: «Die einen finden, dass heute zu viel Werbung betrieben wird. Andere finden, die Schwinger hätten sich das verdient.»
2.277 Millionen Franken hat die Werbeindustrie letztes Jahr in Schwinger investiert. Diesen Betrag teilten sich 72 Sportler. So weit, so transparent. Wer wie viel kassiert hat aus Werbung und Sponsoring, dazu gibt es keine offiziellen Angaben.
Schätzungen gehen davon aus, dass Spitzenschwinger pro Jahr eine halbe Million Franken und mehr einnehmen. Aber: «Nur die besten Schwinger bekommen die Möglichkeit, Werbung zu machen», so Manuel Röösli.
Diese Topschwinger könnten aber durchaus von diesem Einkommen leben. Und sich ansonsten allein aufs Schwingen konzentrieren, als Profisportler. Doch das ist in der Schwingerszene verpönt. Deshalb gehen alle Sägemehl-Champions einem ordentlichen Broterwerb nach.
«Die Illusion vom Amateursport ist wichtig. Das Bild des bodenständigen Chrampfers wird gepflegt», sagt Kulturwissenschaftler Walter Leimgruber.
«Egal wer an einem Fest gewinnt, unter der Woche sind angeblich alle normale Büezer. Das stimmt nicht mehr, denn viele haben ihr Arbeitspensum längst reduziert.»
Zwischen Sport und Brauchtum
Für Fussballer, Tennisspieler oder Skifahrer ist es selbstverständlich, dass sie sich ganz dem Sport widmen, wenn das finanziell drin liegt. Dass das beim Schwingen für Diskussionen sorgt, hat mit dessen engen Verbindung zu Tradition und Brauchtum zu tun.
Zwar sei der sportliche Aspekt immer wichtiger geworden, sagt Leimgruber: «Aber das wesentliche Merkmal bleibt, dass Schwingen als die schweizerische Tradition par excellence gesehen wird.»
Der eidgenössische Schwingerverband selbst sieht das Schwingen als «eine ideale Verbindung zwischen Traditionen, Sport und Fortschritt».
Die Mär von der unveränderlichen Tradition
Althergebrachtes und Zukunftsorientiertes, Tradition und Fortschritt verbinden – ist das kein Widerspruch? Mitnichten.
«Wenn Traditionen beschworen werden, erscheinen sie immer uralt und als hätten sie sich nie verändert. Aber das stimmt nicht», meint Kulturwissenschaftler Leimgruber. «Bei vielen wissen wir nicht, seit wann es sie gibt. Viele wurden im 19. Jahrhundert wiederentdeckt oder neu erfunden. Alle haben sich im Laufe der Zeit verändert.»
Doch die Veränderung soll im Traditionssport auch Grenzen haben. «Vor allem bei der Werbung muss man hart bleiben und klare Richtlinien setzen», findet Manuel Röösli.
«Wenn die Schwinger zu Werbesäulen werden, verliert der Schwingsport seine Unschuld. Genau diese Unschuld ist im Moment der Grund, warum der Schwingsport in aller Munde ist.»
Sehnsucht nach der heilen Welt
Schwingen soll unabhängig und rein bleiben. Ein Stück heile Welt von gestern. Gerade in Zeiten von grosser Unsicherheit und schneller Veränderung hat das grosse Anziehungskraft.
«Tradition ist im Trend, weil man die Gegenwart eher als schwierig empfindet und von der Zukunft nicht viel Positives erwartet», sagt Walter Leimgruber. «Man wünscht sich eine Welt wie damals – ohne die schwierigen und offenbar kaum lösbaren Probleme von heute.»
Das heisst nicht, dass die Anhänger des Schwingsports komplett in der Vergangenheit stehen bleiben. Der digitale Wandel zum Beispiel hat auch hier längst Einzug gehalten.
An einem durchschnittlichen Wettkampftag werde allein die App der Schwingerzeitung «Schlussgang» über 100'000 Mal geöffnet, sagt Redaktionsleiter Manuel Röösli. Und die «Schlussgang»-Webseite habe letztes Jahr mehr als 20 Millionen Seitenaufrufe verzeichnet.
«Die neuen Medien haben an den Schwingfesten eine grosse Bedeutung», so Röösli. Ein Blick in die Zuschauerränge würde zeigen, dass sich mancher per Smartphone etwa über die Zwischenresultate anderer Schwingfeste informierten.
Smartphone und Papierliste
Etwas haben die neuen Informationstechnologien aber nicht überflüssig gemacht: Seit jeher werden an Schwingfesten zwischen den einzelnen Gängen Zwischenranglisten verkauft.
Das sei noch immer so, sagt Röösli, zumindest an den grossen Anlässen: «Trotz den neuen Medien sind diese Papierranglisten weiterhin sehr beliebt.»
Nicht alles Neue verdrängt also das Althergebrachte. Auch ein Sport mit Tradition kann mit der Zeit gehen – und trotzdem bleiben, wie er immer war.
Sendebezug: Laufende Berichterstattung von SRF Sport zum ESAF 2019