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Gesellschaft & Religion Wolfskinder: Mythos und Realität

Man kennt sie als Sagengestalten schon seit der Antike: die sogenannten «Wolfskinder». Menschenkinder, die quasi wild aufwachsen. Jetzt greift ein Hörspiel den Fall eines modernen Wolfskindes auf. Es ist die wahre Geschichte eines kleinen Moskauer Jungen, der 1996 von Strassenhunden adoptiert wurde.

Der Sage nach ist die Stadt Rom von zwei Wolfskindern gegründet worden. Die Zwillinge Romulus und Remus, heisst es, seien nach ihrer Geburt ausgesetzt worden. Und nur weil eine Wölfin sie auffand, sie säugte und grosszog, konnten die beiden überleben.

Als «Wolfskinder» oder «Wilde Kinder» bezeichnet man heute Kinder, die einen Teil ihrer Entwicklung völlig isoliert von der menschlichen Gesellschaft durchmachen, teilweise im engen Zusammenleben mit wilden Tieren. Diese Sonderform der nicht-kulturellen Sozialisation hat die Menschen seit jeher fasziniert. Denn sie konfrontiert uns mit Grundfragen unserer Existenz: Was macht den Menschen zum Menschen? Ist er, wie der Philosoph Rousseau postulierte, von Natur aus gut, oder prägt erst die Erziehung sein Wesen? Und: was haben wir für ein prekäres Verhältnis zur Natur, deren Wildheit uns umgibt und die gleichzeitig in uns steckt, die uns ängstigt und umtreibt?

Der vertierte Mensch

Zwei Kinder, barfuss und mit Mütze, zwischen Eisenbahngeleisen.
Legende: «Wolfskinder» im 2. Weltkrieg, Russland, ca. 1942. Wikimedia

Das wissenschaftliche Interesse an den Wolfskindern begann im Zeitalter der Aufklärung. Der schwedische Natursystematiker Carl von Linné prägte im 18. Jahrhundert den Begriff des «homo ferus», des wilden Menschen. In diese Kategorie fielen Menschen, die sich wie Tiere benahmen, also auf allen vieren liefen, stark behaart waren, tierische Laute von sich gaben. Bei den meisten der damals bekannten Fälle muss es sich aber um Menschen (und auch Kinder) mit Behinderungen gehandelt haben, Schwachsinnige, Missgebildete oder Traumatisierte.

Sie sind wohl von der menschlichen Gesellschaft ausgestossen worden, lebten im Wald oder wurden wie Tiere in Verschlägen gehalten. Andere hat man als Freaks auf Jahrmärkten vorgeführt.

Seit dem Mittelalter bis heute sind nur etwa 60 Fälle von tatsächlichen Wolfskindern dokumentiert. Und wie die vor wenigen Jahren erschienene Arbeit des französischen Chirurgen und Historikers Serge Aroles nahelegt, sind etliche dieser Fälle Fälschungen. Die Chronisten und Forscher haben also im Lauf der Jahrhunderte ihren Anteil zur Legendenbildung rund um dieses sowieso schon mythenschwangere Thema beigetragen.

Ein Kind, das sich von Eicheln und Kastanien ernährt

Eines der ersten Objekte für die wissenschaftliche Neugier war ein französischer Junge, der 1797 in Südfrankreich in einem Wald entdeckt und später gefangen genommen wurde. Der unbekleidete 10jährige Junge wurde untersucht, und man stellte unter anderem fest, dass er nicht sprechen konnte, sein eigenes Spiegelbild nicht erkannte, sich vorwiegend von Eicheln, Nüssen und Kastanien ernährte und keinerlei Interesse für andere Kinder zeigte.

Zahlreiche Gutachten wurden erstellt, und dann versuchte man, diesen Victor von Aveyron, wie man ihn getauft hatte, in die Gesellschaft zu integrieren. Diese Bemühungen scheiterten jedoch, Victor blieb ein Pflegefall. Der französische Cinéast François Truffaut hat diese Geschichte (deren Wahrheitsgehalt auch nicht unbestritten ist) 1970 verfilmt, unter dem Titel «L'enfant sauvage». Und der amerikanische Romancier T. C. Boyle doppelte vor zwei Jahren nach, mit seiner Erzählung «Das wilde Kind».

Zwölf Jahre in der Einsamkeit

Kleiner Junge füttert Wolf auf Wiese.
Legende: Filmstill aus «Entrelobos/Wolfskinder». zVg

Das Schicksal eines Wolfskinds aus dem 20. Jahrhundert wird im spanisch-deutschen Spielfilm «Entrelobos/Wolfsbrüder» aus dem Jahr 2010 nachgestellt. Esgeschah 1953 in der südspanischen Sierra Morena. Der siebenjährige Marcos wird von seinem Vater an einen Grossgrundbesitzer verkauft. Dieser schickt ihn als Ziegenhirte in die abgelegenen Berge.

Das erste halbe Jahr lebt Marcos zusammen mit einem alten Mann in einer Höhle. Als dieser plötzlich stirbt, ist er auf sich allein gestellt. Nur alle paar Monate kommt jemand vorbei, um nach der Herde zu schauen.

Zwölf Jahre verbringt Marcos in dieser Einsamkeit. Und er kommt dabei in immer näheren Kontakt mit den Tieren in seinem Lebensraum. So befreundet er sich mit einem kleinen Wolf, den er für einen Hund hält. Ab dem Moment, als die Wolfsmutter den Spielkameraden ihres Jungen akzeptiert, gehört Marcos zur Wolfsfamilie. Er lebt bei ihnen, heult mit ihnen, jagt mit ihnen.  

Schwierige Rückkehr zu den Menschen

Schliesslich wird Marcos ganz zufällig von einer Patrouille der Guardia Civil aufgegriffen und in die Zivilisation zurückgebracht. Die Wiedereingliederung des 19jährigen stellt sich als sehr schwierig heraus. Das liegt vor allem an seiner Sprachbehinderung. Er besitzt keinen ausreichenden Wortschatz, um sich adäquat ausdrücken zu können. In der Isolation war seine Sprachentwicklung zum Stillstand gekommen. Marcos drückt es später so aus: «Ich konnte reden, aber ich kannte nur wenige Wörter. Ich wusste nicht, wie viele Dinge hiessen. Ich wusste, dass ein Glas ein Glas ist, und dass man es zum Trinken benutzt, aber ich wusste nicht, wie man es nannte.» 

Marcos findet nie wirklich seinen Platz in der Gesellschaft. Zeitweise lebt er wieder in einer Höhle. Er sehnt sich nach der Geborgenheit, die er beim Wolfsrudel gefunden hat: «Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich sie vermisst habe. Jahrelang habe ich geweint, wenn ich an meine Wölfe dachte.» Erst bei den Dreharbeiten zu dem Film, Marcos war schon weit über sechzig, kam es zu einer Wiederbegegnung.

«Ich bin auf einen Felsen geklettert und habe wie ein Wolf geheult. Sie sind auf mich zugelaufen, da habe ich mich gleich auf den Boden geworfen, Bauch nach oben, Hände im Nacken. Damit sie wissen, dass ich mich unterordne. Dann kam die Wölfin, sie schnupperte an mir, ich habe sie angepustet, und schon hat sie mich abgeleckt.»

Strassenkinder im Russland der 90er Jahre

Die jüngsten Beispiele von Wolfskindern wurden aus Russland und seinen ehemaligen Republiken bekannt. Sie stehen wohl nicht zufällig in einem Zusammenhang mit den Problemen der postsowjetischen Gesellschaft. Speziell in den 90er Jahren, als Boris Jelzin das auseinander gebrochene Grossreich regierte, griff eine teilweise dramatische Armut um sich. Obdachlosigkeit, Gewalt und Alkoholismus waren weit verbreitet. Darunter hatten auch Tausende von Kindern zu leiden, die auf der Strasse landeten und sich selbstüberlassen wurden. Die Strassenkinder schlossen sich zu Banden zusammen, sie hausten in Kellerlöchern und auf Müllhalden, sie begingen Überfälle und nahmen Drogen.

Eines dieser Kinder war Ivan Mishukov. Mit vier Jahren lief er von zu Hause weg, von seiner Mutter und dem Stiefvater, die tranken und prügelten. Der kleine Ivan fand Unterschlupf bei einem Rudel wilder Hunde. Sie akzeptierten ihn wohl auch deshalb, weil er ihnen regelmässig Nahrung besorgen konnte, zum Beispiel aus Abfalleimern. Trotzdem grenzt es an ein Wunder, dass Ivan zwei Jahre lang bei den Hunden überleben konnte, zwei strenge Winter inbegriffen. Mitten im Moskauer Strassendschungel hat dieses Kind eine unsichtbare Grenzlinie überschritten. Es ist buchstäblich verwildert, selber zum Tier geworden. Nur so konnte Ivan den Zumutungen einer lebensfeindlichen Zivilisation entkommen.

Mensch oder Hund?

Audio
Ausschnitt aus «Ivan und die Hunde»
01:09 min
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Gleich zwei Schriftstellerinnen aus dem angelsächsischen Raum versuchten mit fiktionalen Mitteln in Worte zu fassen, was der «Wolfsjunge» Ivan erlebt haben muss. Praktisch zeitgleich erschienen 2009 der Roman «Dog Boy» der Australierin Eva Hornung, das deutsch 2010 im Suhrkamp Verlag erschien, und das Hörspiel «Ivan und die Hunde» der Engländerin Hattie Naylor. 

Es sind zwei ganz und gar unterschiedliche Versionen entstanden, aber beiden Autorinnen gelingt eine packende Schilderung des unfassbaren Geschehens. Und in beiden Fällen muss Ivan am Ende eine Entscheidung treffen: Will er Hund sein oder Mensch?

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