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Abgefahrener Bau Zwischen Natur und Subkultur: Zu Besuch im Busbahnhof Tel Aviv

Der zweitgrösste Busbahnhof der Welt steht in Tel Aviv. Das Beton-Monstrum ist halb leer – das hat Migranten, Künstler und Fledermäuse angezogen. Ein Augenschein.

  • Der Busbahnhof in Tel Aviv, der zweitgrösste weltweit, ist ein riesiges «Labyrinth», das grösstenteils leer steht.
  • Der Bahnhof wird vor allem von Migranten als Wohnort genutzt. Aber auch Kunst und Kultur entstehen an diesem verlassenen Ort.
  • Der Busbahnhof von Tel Aviv wurde vom israelischen Stararchitekten Ram Karmi entworfen. Der Bau wurde 1967 begonnen und erst 1993 abgeschlossen.

Ein riesiger Bunker, ein Betonklotz, der zentrale Busbahnhof im Süden Tel Avivs: Mit 230‘000 Kubikmetern ist er ein Stadtteil für sich und ziemlich heruntergekommen. Viele der über 100 Ladengeschäfte stehen leer. Ein Stockwerk mit ehemals sechs Kinos ist ganz geschlossen und modert vor sich hin.

Wer jemals hier hinein musste, wird Probleme gehabt haben, den richtigen Bus zu finden – oder auch einfach wieder einen Ausgang. Tatsächlich verlaufen sich täglich viele Reisende in den verwirrenden Gängen und kaum merklich in einander übergehenden Ebenen. 29 Rolltreppen und 13 Fahrstühle sind da nicht sonderlich hilfreich.

Lebensraum für Migranten

Trotzdem wurde dieses Labyrinth zum Lebensraum für viele, die sich das überteuerte Tel Aviv ansonsten nicht leisten könnten: afrikanische Flüchtlinge etwa oder philippinische Migrantenfamilien.

Sie «bewohnen» hier ganze Strassenzüge: In einem ehemaligen Shop feiern sie sogar christlichen Gottesdienst, und auf den «Plätzen» geniessen ihre Kinder Tanzunterricht.

In den Lebensmittelläden der Philippinos kann man Früchte und Spezialitäten kaufen, die es sonst nirgends gibt in Tel Aviv. Die Türme von Klebebändern, die es vor jedem Laden gibt, kaufen die Migranten selbst. Damit kleben sie die Pakte für ihre Familien in der Heimat zu.

Theater, Kunstgalerie und ein Jiddisch-Museum

Auch für Kunst und Kultur hat es hier Platz: Ein Off-Scene-Theater hält sich seit über zehn Jahren wacker. In einer Kunstgalerie stellen nicht nur Newcomer aus.

Gänsehaut kann bekommen, wer aus all dem Lärm plötzlich in das verwunschene Jiddisch-Museum findet. Schliesst sich die Tür, tritt plötzlich Stille ein. Und nach ein paar Schritten öffnet sich eine unförmige Halle, wo sich 40‘000 Bände jiddischer Literatur stapeln.

Die Katakomben des Busbahnhofs bergen so die Erinnerung an eine fast ausgestorbene Kultur, die in Israel ansonsten wenig wertgeschätzt wird. Den jiddischen Mikrokosmos hütet der Schauspieler und Sänger Mendy Cahan.

Naturreservat für Fledermäuse

Im untersten Stock haben sich, neben nie genutzten Bunkerräumen und nie eingebauten, mannshohen Luftfiltern, seltene Fledermäuse eingenistet. Sie stehen unter Naturschutz. Und so ist dieser unwirtlichste aller Orte Tel Avivs doch tatsächlich auch ein Naturreservat.

Man soll sich verlieren

Der Busbahnhof sei vom israelischen Stararchitekt Ram Karmi bewusst als Labyrinth geplant worden, damit sich die Leute sprichwörtlich beim Shopping und Entertainment verlieren.

Das sagt der Tel Aviver Künstler Jonathan Mishal, der sich hier auskennt wie kein anderer. Er führt Gäste leidenschaftlich und stundenlang durch diesen Komplex.

Kein Eintrag ins Architekten-Reinheft

Architekt Ram Karmi schämte sich für seinen Busbahnhof Tel Aviv offenbar derart, dass er ihn nicht in seine Retrospektive aufnahm. Der Bau stand von Anfang an unter keinem guten Stern: Er zerschneidet das bereits bebaute Quartier darum herum auf unorganische Weise und liegt zudem weit ab vom Zentrum der Metropole.

Der Bau wurde 1967 begonnen, aber erst 1993 abgeschlossen. Da erwies sich die ganze Anlage bereits als vollkommen überdimensioniert. Denn anstelle der prognostizierten 1 Million Reisender täglich kamen höchstens 100‘000. Seit die schöne neue Eisenbahn Tel Aviv mit Haifa und Beer Sheva verbindet, nimmt kaum noch jemand den langsamen Bus.

Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Passage, 28.08.2017, 20:00 Uhr.

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