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Musik Kriminal-Sinfonie: Bruckners Neunte und das Satzfragment

Ein Jahrhundert lang galt Anton Bruckners Neunte Sinfonie als unvollendet. Der Komponist starb, bevor er den vierten Satz vollenden konnte – das war die weit verbreitete Meinung. In detektivischer Kleinarbeit wurde in den letzten Jahren der unvollständige vierte Satz zu grossen Teilen rekonstruiert.

Wien, Herbst 1896: Der Komponist Anton Bruckner liegt auf dem Sterbebett. Schüler und Verehrer besuchen ihn, um vom Meister Abschied zu nehmen. Im Arbeitszimmer nebenan liegt auf dem Schreibtisch eine neunte Sinfonie, an der Bruckner nun schon lange arbeitet.

Die Musik erlischt wie Bruckners Leben

Drei Sätze sind fertig; doch allmählich wird klar: Der geschwächte Komponist wird den vierten und letzten Satz nicht mehr beenden können. Bruckner selbst befürchtet das auch, und so verfügt er, dass anstelle des unvollendeten Finales sein Te Deum gespielt werde.

CD Hinweis

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Bruckners Neunte - vervollständigt:

Dir. Nikolaus Harnoncourt, Wiener Philharmoniker. Sätze 1-3 nach der kritischen Gesamtausgabe; Fragmente von Satz 4 als Gesprächskonzert (2003, RCA).

Dir. Simon Rattle, Berliner Philharmoniker. Sätze 1-4, Satz 4 in der Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca Fassung (2012, EMI).

Der Dirigent der Uraufführung, Ferdinand Löwe, erfüllt den Wunsch des verstorbenen Komponisten. Doch gleichzeitig lässt er verlauten, dass das völlig unnötig sei; auch die ersten drei Sätze von rund einer Stunde Dauer stellten ein vollständiges Werk dar. Und so erklingt Bruckners Neunte Sinfonie bis heute als dreisätziges Werk, mit einem verdämmernden Schluss. Sehr passend, nicht? Die Musik erlischt so wie einst das Leben des Komponisten…

Verschwanden Blätter aus dem Arbeitszimmer?

Doch was genau geschah eigentlich damals bei all den Besuchen von Bruckners Freunden und Schülern am Sterbebett des Komponisten? Schaute der eine und andere vielleicht auch schnell noch ins Arbeitszimmer – und steckte dieses oder jenes Blatt ein? So wichtig konnte das alles ja nicht sein, das eine oder andere durfte man sicher behalten – als Andenken an den verehrten Meister natürlich.

Erwiesen ist jedenfalls, dass die Bruckner-Dirigenten Ferdinand Löwe und Franz Schalk einzelne Seiten aus dem Finale der Neunten verschenkten und verkauften. Und gleichzeitig verbreitete sich das Gerede von Bruckners «unvollendeter» Sinfonie so lange, bis es Tatsache schien.

«Suchen Sie auf dem Dachboden nach Material»

Fachleute sind da heute ganz anderer Ansicht. Bruckner komponierte das Gerüst des Satzes anscheinend lückenlos von Anfang bis Ende, nur die Instrumentierung konnte er nicht mehr vollständig ausarbeiten. Dennoch existierte die Sinfonie somit bei seinem Tod vollständig. Erst später machte fahrlässiges (wenn nicht sogar kriminelles) Verhalten den vierten Satz zum Fragment, mit einigen Lücken im Ablauf.

Doch muss es für immer so bleiben? Tatsächlich kam noch 2003 ein bis dahin unbekanntes Skizzenblatt in einem Nachlass ans Tageslicht… Und Dirigent Nikolaus Harnoncourt, der alle Bruckner-Sinfonien aufgenommen hat, hegt die Hoffnung, dass die eine oder andere Wiener Familie «zuhause auf dem Dachboden oder in alten Kommoden» durchaus noch Material zum Finale der Neunten finden könnte.

Audio
Nikolaus Harnoncourt über die Überreste des vierten Satzes.
01:59 min
abspielen. Laufzeit 1 Minute 59 Sekunden.

Skizzen ergänzt und Lücken nachkomponiert

Einige Musikdetektive gingen sogar noch weiter. Die vier Musikwissenschaftler bzw. Komponisten Nicola Samale, John A. Phillips, Benjamin Gunnar Cohrs und Giuseppe Mazzuca haben sich in jahrelanger detektivischer Arbeit mit der Sinfonie beschäftigt: mit Bruckners Arbeitsweise und Planung, mit Aufbau und Konzept des Finales, mit der Partitur und jedem einzelnen Skizzenblatt. So wurde es schliesslich möglich, die Skizzen zu ergänzen und die wenigen Lücken nach zu komponieren.

Der Fall ist zu 95 Prozent aufgeklärt

Konzerthinweis

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Bruckners Neunte mit dem vervollständigten vierten Satz nach Samale-Phillips-Cohrs-Mazzuca ist in den nächsten Tagen an vier Konzerten der basel sinfonietta zu hören. Die genauen Daten und Orte finden sich auf der Webseite des Orchesters.

Alles nur Musikwissenschaft? – Durchaus nicht. Ob die Sinfonie einen Schlusssatz hat oder nicht, ändert alles. Der tiefgläubige Anton Bruckner hat das Werk «dem lieben Gott» gewidmet. Undenkbar für ihn, dass es mit dem verdämmernden Adagio, also sozusagen mit dem Tod, schliessen würde. Der eigentliche Schluss konnte für Bruckner nur die Auferstehung sein, und diese findet nun im Jubel des vollendeten Finales auch statt.

Mehr als 100 Jahre nach den vielleicht doch etwas kriminellen Begleitumständen ihrer Entstehung hören wir nun Bruckners Neunte erstmals im Original. Oder in etwa 95 Prozent davon. Und vielleicht kommen die restlichen 5 Prozent dereinst noch auf einem Dachboden ans Tageslicht.

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