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Verbitterungsstörung
Aus 100 Sekunden Wissen vom 04.12.2018. Bild: SRF / Sébastien Thibault
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Verbitterungsstörung Wenn Kränkung zur Krankheit wird

Das Leben hält viele Kränkungen bereit. Was die meisten Menschen verwinden, schmerzt andere, bis sie krank werden.

Irgendwann wurden sie auffällig zahlreich: Menschen, die ab den frühen 1990er-Jahren in Deutschland verbittert in der Psychiatrie landeten.

In den Kliniken sah sich das Personal immer häufiger mit Patienten konfrontiert, die zuvor oft lange krankgeschrieben, schliesslich berentet und doch nicht glücklicher wurden.

Die Biografie wurde entwertet

Was war passiert? Der Mauerfall, die deutsche Wiedervereinigung und die Auflösung sozialer und ökonomischer Strukturen hatten viele Menschen im Osten des Landes zu Verlierern gemacht.

Jobs wurden wegrationalisiert, ganze Arbeitsbiografien rückwirkend entwertet. Lang gehegte politische Überzeugungen galten als überholt oder gar als verwerflich.

Liebgewordene Lebensgewohnheiten – von der Freizeitgestaltung über die Esskultur bis hin zu vormals begehrten Alltagsgegenständen – wurden belächelt.

junge Männer rennen freudig eine Strasse entlang
Legende: Auf die Euphorie folgt Ernüchterung: Nach der Wende stürzten viele Ostdeutsche in die Krise. Keystone / STR

Da standen sie nun und wussten nicht weiter. Sie waren verbittert – tief verletzt durch die Ungerechtigkeit der historischen Umwälzung, die ihr ganzes bisheriges Leben in Frage zu stellen schien.

Sie grübelten, waren gereizt und bedrückt. Durch Kränkung und Resignation in ihrer Geschichte festgehalten. Sie sahen sich als Opfer und wollten sich doch nicht helfen lassen.

Spezifische Seelenlage

Diese spezifische Seelenlage mit noch spezifischerem Auslöser brachte deutsche Fachleute dazu, zur Jahrtausendwende den Begriff der «posttraumatischen Verbitterungsstörung» zu prägen.

Dieses Phänomen ist nicht erst seit der deutschen Wende bekannt. Schon Aristoteles beschrieb das Bild der Verbitterungsstörung in seiner «Nikomachischen Ethik»: «Verbittert ist der schwer zu Versöhnende, der lange Zeit den Zorn festhält. (…) Da die Erregung nicht offen heraustritt, so kann einem solchen auch keiner gut zureden. (…) Diese Art von Menschen ist sich selbst und den vertrautesten Freunden die schwerste Last.»

Tief gekränkt, noch tiefer verletzt

Zwei bis drei Prozent der Bevölkerung sollen heute unter dieser Störung leiden – gekränkt durch Ungerechtigkeit und Vertrauensbruch. Tief verletzt durch Trennungen, Kündigungen, Konflikte.

Ein Trabant liegt schrottreif im Gebüsch.
Legende: «Wann erreicht ein Trabbi seine Höchstgeschwindigkeit? Wenn er abgeschleppt wird»: Trabant, die Automarke der DDR, wurde von Wessis gerne belächelt. 1991 lief der letzte Trabbi vom Band. Imago / Steinach

Die meisten Menschen stecken solche Tiefschläge irgendwann weg. Andere können empfundenes Unrecht nicht verwinden.

Ein Konglomerat von Aggressivität, Resignation und Rachegefühlen durchdringt ihr Inneres und sucht sich auch seinen Weg nach aussen.

Bis zum Äussersten getrieben

Juristen kennen verbitterte Menschen nur allzu gut. Es sind jene Querulanten, die um jeden Preis auf Genugtuung aus sind und damit durch alle Instanzen gehen.

Ihre Verletzung lässt verbitterte Menschen bisweilen bis zum Äussersten gehen. Sie nehmen Selbstzerstörung in Kauf, manchmal gar den Tod – den eigenen, aber auch den von anderen.

Kohlhaas als Paradebeispiel

Ein Paradebeispiel eines derart Getriebenen ist Kleists Michael Kolhaas, dessen historisches Vorbild wegen zweier gestohlener Pferde und eines verlorenen Rechtsstreits die Stadt Wittenberg anzündete und 1544 zur Strafe gerädert wurde.

Noch ist die Posttraumatische Verbitterungsstörung keine von der Weltgesundheitsorganisaiotn WHO anerkannte Diagnose. Doch eine Therapie dagegen gibt es schon.

In der so genannten Weisheitstherapie lernen Patienten in Gesprächen und Rollenspielen, die Perspektive zu wechseln, Empathie zu entwickeln, Ungewissheit auszuhalten und sich nicht ständig um sich selbst zu drehen.

Ganz im Sinn von Friedrich Nietzsche: «Der Zuwachs an Weisheit lässt sich genau nach der Abnahme der Galle bemessen.»

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