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Schweiz «Die Ventilklausel könnte die Zahl der Ausländer erhöhen»

Der Bundesrat überlegt, die Zuwanderung von europäischen Arbeitskräften in die Schweiz zu beschränken. Die Auswirkungen des Aufrufs der Ventilklausel sind ungewiss. Doch die Regierung könnte mit dem Schritt ein starkes politisches Zeichen setzen, sagen Experten.

Ventilklausel

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Die Ventilklausel im Personenfreizügigkeits-Abkommen erlaubt der Schweiz, einseitig Kontingente für die Zuwanderung aus den EU-25-Staaten einzuführen. Die Voraussetzung: Die Anzahl der ausgestellten Aufenthaltsbewilligungen an Erwerbstätige in einem Jahr liegt mindestens 10 Prozent über dem Durchschnitt der vorangegangenen drei Jahre.

Bis Ende April entscheidet der Bundesrat, ob er die Ventilklausel aufruft. Mit diesem Schritt könnte er die Zuwanderung aus den EU-25-Staaten in die Schweiz bis Ende Mai 2014 einschränken. Die Voraussetzung für diesen Schritt: Die Zahl erteilter Aufenthaltsbewilligungen müsste ein bestimmtes Limit übersteigen. Die Voraussetzung wird voraussichtlich erfüllt werden (siehe Kasten).

Ventilklausel ein Versprechen?

Doch der Bundesrat ist in der Zwickmühle: Ruft er die Klausel auf, hält er zwar sein Versprechen gegenüber dem Volk. Er verärgert aber die EU, die auf eine uneingeschränkte Personenfreizügigkeit pocht. Ruft er die Klausel nicht auf, verärgert er das Volk.

«Obwohl der Bundesrat die Ventilklausel nur als mögliche Massnahme dargestellt hat, empfinden es die Leute als ein Versprechen, das eingehalten werden muss.» Das sagt Europarechtlerin Christa Tobler, die an den Universitäten Basel und Leiden (NL) unterrichtet. «Die EU würde sich über das politische Signal zwar sicher nicht freuen.» Allerdings glaubt sie nicht, dass der Aufruf der Klausel die Beziehungen zu Europa nachhaltig beeinträchtigen wird. Die Anwendung der Ventilklausel sei legal, solange sie gegen alle EU-Staaten angewendet werde und sofern die Limits der erteilten Aufenthaltsbewilligungen tatsächlich überschritten würden.

EU-25-Staaten

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Die EU-25 umfasst alle Länder, die der EU vor 2007 beigetreten sind. Für Rumänien und Bulgarien, die später dazu stiessen, gelten besondere Bestimmungen für die Einwanderung. Die EU-8 umfasst Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechische Republik und Ungarn. Die EU-17 entsprechen den EU-25 ohne die 8 osteuropäischen Staaten.

Innenpolitischer Konflikt vorprogrammiert

Auch der Europa-Experte Dieter Freiburghaus sieht die Beziehungen zur EU durch einen Aufruf nicht gefährdet. Ruft der Bundesrat die Klausel aber nicht auf, droht aus seiner Sicht ein innenpolitischer Konflikt. «Dann wird ihm die Rechte Verrat vorwerfen», sagt der Politologe, der in Lausanne und Bern lehrte. «Die SVP könnte die Situation gewaltig ausschlachten und die ungebremste Zuwanderung für ihre Initiative »gegen Masseneinwanderung« verwenden.» Wird die Initiative angenommen, müsste das Abkommen zur Personenfreizügigkeit gekündigt werden, was auch die Verträge der Bilateralen I zu Fall bringen würde. «Das wäre der GAU für die Schweizer Wirtschaft», ist Freiburghaus überzeugt.

Auch wenn die Ventilklausel in Kraft tritt, die Zuwanderung wird sie nicht nachhaltig bremsen. Das zeigen allgemeine Schätzungen: Die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen würde um einige Tausend reduziert – ein Bruchteil der durchschnittlich 80‘000 jährlich erteilten Bewilligungen. Und ab Juni 2014 darf die Klausel auf die EU-25-Staaten sowieso nicht mehr angewendet werden.

«Die Leute bleiben bei Aufruf der Ventilklausel vielleicht eher hier»

Laut George Sheldon, Leiter der Forschungsstelle für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie an der Universität Basel, hat die Klausel ohnehin einen Haken: Sie beeinflusst nur die Zuwanderung, nicht aber die Abwanderung. Um die Auswirkung der Ventilklausel richtig einzuschätzen, müssten jedoch beide Seiten berücksichtigt werden. «Werden weniger Bewilligungen erteilt, bleiben die Leute vielleicht eher hier», sagt Sheldon. Die Ventilklausel könnte also die Zuwanderung unter dem Strich sogar erhöhen.

Audio
Ventilklausel: Uneinigkeit im Nationalrat
aus HeuteMorgen vom 27.03.2013. Bild: Keystone
abspielen. Laufzeit 10 Minuten 47 Sekunden.

Er illustriert seine These mit einem Blick auf die vergangenen zehn Jahre. Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit 2002 hat die Schweiz massiv mehr Erwerbstätige aus den EU-15-Staaten. «Effektiv sind in diesen Jahren immer weniger Leute in die Schweiz eingewandert. Aber es sind noch viel weniger ausgewandert – die Leute blieben.»

Wie wird sich die Zuwanderung ab Juni 2014 entwickeln? «Eine Prognose ist sehr schwierig», sagt Sheldon. Längerfristig erwartet er, dass die Nachfrage nach Arbeitskräften aus dem Ausland abnimmt: «Die jungen Menschen in der Schweiz sind immer besser qualifiziert und werden bestimmte Lücken füllen.»

«Andere Länder können von einer solchen Quote nur träumen»

In der Bevölkerung herrscht Unmut über die starke Zuwanderung: unbezahlbare Wohnungsmieten und Engpässe auf dem Arbeitsmarkt sind gängige Ängste. Ökonom Sheldon hat Verständnis für den Unmut. Doch er betont: 50 bis 60 Prozent der Einwanderer seien Akademiker: «Andere Länder können von einer solchen Quote nur träumen.»

Das sieht auch Dieter Freiburghaus so. «Wir wissen, dass unser Reichtum von der florierenden Wirtschaft stammt. Wollen wir den Wohlstand beibehalten, müssen wir uns auf weiteres Bevölkerungswachstum einstellen.» Mit einer Beschränkung der Zuwanderung spiele man als Land irgendwann nicht mehr in der ersten Liga.

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