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Extrem-OP (2) – Jetzt gilt es ernst
Aus Puls vom 31.10.2016.
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Extrem-OP (2) Sterben, um zu leben

Menschen zu therapeutischen Zwecken zu unterkühlen, ist mittlerweile in der Medizin etabliert. Mediziner haben dabei aus Unfällen gelernt.

Mit Jacqueline Schneiders Leistungsfähigkeit ging es stetig bergab: Bereits kurze Strecken wurden zur Herausforderung, dann machte der Sauerstoffmangel ihr einen Strich durch die Rechnung. Die Diagnose: eine chronische thromboembolische pulmonale Hypertonie, also Bluthochdruck im kleinen Herz-Lungenkreislauf.

Anzeige-Bilderschirm mit der Körpertemperatur der Patientin.
Legende: Die Körpertemperatur der Patientin wird im Zuge des Eingriffs gesenkt und wieder angehoben. SRF

Eine Erkrankung, die sich immer weiter verschlechtern würde, bis sie schliesslich nur noch eine Lungen-Transplantation würde retten können. Einzige Alternative: eine zeitnah durchgeführte hochriskante Operation, die den Zustand deutlich verbessern könnte.

Dabei werden die Gefässe von einengenden Ablagerungen und von Vernarbungen befreit, die für den erhöhten Widerstand verantwortlich sind. Aber: Dazu muss Jacqueline Schneider zweimal «sterben». Rund zweimal 20 Minuten wird in ihrem Körper kein Blutkreislauf mehr vorhanden sein, damit die behandelnde Chirurgin ohne zirkulierendes Blut die verstopften Gefässe ausschälen kann.

Die einzige Chance, nach einer solch langen Zeit ohne Hirnschäden wiederbelebt werden zu können, besteht in einer Unterkühlung des Körpers der 49-Jährigen auf nur noch 18 bis 20 Grad. Denn mit jedem Grad Körpertemperatur sinkt auch der Sauerstoffbedarf.

Lehrreiche Unfälle

Unterkühlung

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Ab 30 Grad wehrt sich der Körper, die Atmung beschleunigt sich. Fällt die Körpertemperatur unter 28 Grad, sterben ohne ärztliche Überwachung zwei von drei Opfern. Temperaturen unter 24 Grad führen in der Regel zu Bewusstlosigkeit und schliesslich zum Herzstillstand. Unter null Grad kommt es zu Kristallisierungen im Blut, der Mensch stirbt.

Dass eine solch starke Unterkühlung für den Menschen nicht nur eine Gefahr, sondern auch eine Chance darstellt, hat die Medizin aus Unfällen gelernt. Zum Beispiel aus dem der Schwedin Anna Bågenholm. Sie überlebte 1999 einen Skiunfall in den abgeschiedenen norwegischen Bergen ohne grössere bleibende Schäden – dank einer massiven Unterkühlung.

Bei der Abfahrt brach sie Kopf voran in ein Flussbett ein und wurde von der Strömung unter die 20 Zentimeter dicke Eisdecke gezogen. Sie verklemmte sich so unglücklich, dass weder sie selbst noch ihre beiden Begleiter sie befreien konnten. Immerhin lag sie aber auf dem Rücken und konnte so unter der Eisdecke atmen, bis das eiskalte Wasser nach 40 Minuten seine Wirkung getan hatte und ihr Kreislaufsystem zum Stillstand kam.

Tot geborgen

Um 19:40 Uhr, nach inzwischen 80 Minuten im Eisbach, befreite der eingetroffene Rettungstrupp sie aus ihrem Gefängnis, eiskalt, ohne Puls, ohne Reaktion der Pupillen, ohne Atmung, ohne Hirnströme – toter kann ein Mensch kaum wirken. Annas Begleiter – beide wie selbst Ärzte – gaben aber nicht auf. «Niemand ist tot, bis er warm und tot ist»: Diesem Leitsatz gehorchten die beiden und überbrückten mit Herzdruckmassage und Mund-zu-Mund-Beatmung die Zeit, bis der Rettungshubschrauber eintraf.

Timeline

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Der Operationstag von Jacqueline Schneider glich einem Marathon – für Chirurgin und Patientin. Die interaktive Timeline zeigt, was während des hoch riskanten Eingriffs wann geschah.

24 bange Stunden

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Eine riskante OP wagen oder bald an Herzversagen sterben? «Puls» begleitet eine Patientin, die vor dieser Wahl steht.

Alle Folgen der Serie

Während des einstündigen Flugs ins nächste Krankenhaus wurde Anna weiter reanimiert und beatmet, auch wenn der Defibrillator ihr Herz nicht wieder zum Schlagen brachte. Während dieser Zeit wurde sie nicht etwa aufgewärmt, sondern im Gegenteil: gekühlt, um Hirnschäden möglichst gering zu halten. 13,7 Grad betrug ihre Körpertemperatur da nur noch.

Schliesslich im OP angekommen wurde Anna Bågenholm an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Das kalte, sauerstoffarme Blut wurde abgesaugt und langsam erwärmt, mit Sauerstoff angereichert und in die Oberschenkelschlagader zurückgepumpt. Über Stunden hinweg kämpften die Ärzte weiter, auch als später Leber und Nieren ausfielen.

Wiederbelebt nach drei Stunden

Als sie schliesslich vorsichtig auf 31 Grad erwärmt worden war, geschah es: Um 22:15 Uhr, nachdem sie bereits drei Stunden tot gewesen war, begann ihr Herz wieder zu schlagen. Zwar folgten weitere Komplikationen, doch bei 36,4 Grad konnten die Ärzte schliesslich die Herz-Lungen-Maschine abstellen.

14 Tage später wachte Anna Bågenholm wieder aus dem Koma auf. Es folgten zwei Monate Intensivstation, weil ihre Nieren und ihr Verdauungsapparat Probleme machten und sie zunächst halsabwärts gelähmt war. Nach fünf Monaten und intensiver Rehabilitation arbeitete sie aber bereits wieder als Ärztin. Nur ein leichtes Zittern durch die geschädigten Nerven ist geblieben.

Nützliche Erkenntnisse

Dass eine solche Wiedergeburt aus dem Eis möglich war, hat Anna Bågenholm verschiedenen Faktoren zu verdanken, von denen auch die heutige Medizin profitiert. Zum einen kühlte die zierliche Anna sehr rasch aus. Zum anderen hörte ihr Herz erst auf zu schlagen, als auch ihr Hirn bereits so heruntergekühlt war, dass es kaum mehr Sauerstoff benötigte und so durch den Sauerstoffmangel kaum Schaden nehmen konnte.

Ausserdem kam Anna zugute, dass sie einerseits fit war, andererseits aber keine inneren Verletzungen hatte: Bei Traumapatienten sind Unterkühlungen tückisch, weil sie die Blutgerinnung negativ beeinflussen.

Heute kommt die gezielte klinische Unterkühlung auch bei Patienten im Koma nach Herzstillständen oder bei Kopfverletzungen zum Einsatz. Und man weiss auch, dass das Wiederaufwärmen seine Tücken hat. Für Jacqueline Schneider jedoch war die gezielte Unterkühlung die Chance auf die Operation, die sie so dringend benötigte – und die sie mittlerweile gut überstanden hat.

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