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Knabenbeschneidung – mehr als nur ein kleiner Schnitt
Aus Puls vom 23.01.2023.
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Männliche Beschneidung Blackbox Beschneidung: Wann ist der Eingriff wirklich nötig?

Ein Schnitt mit traditionsreicher Geschichte: die Beschneidung bei Buben. Doch wann ist der Eingriff aus medizinischer Sicht angezeigt? Kinderchirurgen und Ärztinnen räumen mit Irrtümern auf.

Die Beschneidung bei Buben ist einer der symbolträchtigsten Eingriffe, der weltweit seit Jahrtausenden durchgeführt wird. Als gesellschaftliches Phänomen führt das Thema wiederkehrend zu Debatten.

Dazu würden teils «Fake News» verbreitet, wie der Chefarzt Kinder- und Jugendchirurgie des Ostschweizer Kinderspitals, Thomas Franz Krebs, feststellt. Beispielsweise wird behauptet, dass eine Beschneidung einen relevanten Einfluss auf ein befriedigendes Sexualleben habe oder grundsätzlich vor Geschlechtskrankheiten schütze.

Häufigster chirurgischer Eingriff

Klar ist, dass es sich um den häufigsten chirurgischen Eingriff bei Buben handelt – auch in der Schweiz. In welchen Fällen ist es aus rein medizinischer Sicht sinnvoll, die Vorhaut vom Penis eines Kindes abzutrennen?

«Erst wenn es zu wiederkehrenden Entzündungen kommt oder eine Vorhautverengung zu Schmerzen führt und andere Behandlungsmethoden wie eine Salbenbehandlung zu keiner dauerhaften Verbesserung führen, ist ein Eingriff medizinisch gerechtfertigt», erklärt Krebs.

In ungefähr 90 Prozent der Fälle ist die Salbenbehandlung erfolgreich. Es gebe noch weitere, seltene Krankheiten oder Fehlbildungen, die einen Eingriff rechtfertigten.

Mythos: Zurückstreifen der Vorhaut bis zum Schulalter

Der Chefarzt betont aber: Eine enge Vorhaut, fachsprachlich physiologische Phimose, sei bis zur Pubertät häufig und stelle prinzipiell keine Erkrankung dar. Maya Horst Lüthy, Chefärztin Kinderurologie in Zürich, bestätigt: «Es stimmt nicht, dass Buben die Vorhaut bis zum Schulalter zurückschieben können müssen.»

Sie sei immer wieder mit Eltern konfrontiert, die diesem Mythos Glauben schenkten. Eine Studie aus Dänemark zeigt sogar, dass die Vorhaut und der Eichel bei zwei Drittel der Zehnjährigen noch verklebt sind.

Buben-Beschneidungen in der Schweiz

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Es handelt sich um eine Blackbox, wie viele Buben insgesamt in der Schweiz beschnitten werden. Das Bundesamt für Statistik (BFS) hat lediglich Zahlen der Eingriffe in Spitälern.

Zwischen 2014 und 2020 wurden jährlich rund 6000 Beschneidungen bei Jungen und Männern vorgenommen, fast die Hälfte davon bei unter 18-Jährigen. Bei den Minderjährigen nahmen die Beschneidungen in dieser Zeitspanne deutlich zu, um fast ein Drittel. Fachexperten können keine Erklärung dafür liefern.

Im Verhältnis zur Einwohnerzahl wurden in Schweizer Spitälern jährlich rund siebenmal mehr Minderjährige beschnitten als in deutschen Spitälern. Das heisst, in der Schweiz wurden beispielsweise 2019 von 100'000 Minderjährigen bei gerundet 35 die Vorhaut entfernt, in Deutschland bei knapp fünf.

Ein möglicher Grund könnte sein, dass es in Deutschland im Gegensatz zur Schweiz eine ärztliche Richtlinie gibt, wie und wann beschnitten werden soll. Und vor einigen Jahren hat sich ein deutsches Gericht dafür ausgesprochen hat, dass das Wohl des Kindes über der Religionsausübung der Eltern stehe. In einem kurz darauf beschlossenen Gesetz wird aber festgehalten, dass auch nicht medizinisch indizierte Beschneidungen bei Jungen legal sind.

Keine Regeln

Vom Bundesamt für Statistik wird aber nicht erfasst, dass neben den Schweizer Kinderkliniken auch etliche private Arztpraxen sowie Laien Beschneidungen bei Babys und Jungs anbieten. Sie machen keinen Hehl daraus, dass sie bereits Neugeborene ohne Schmerz- und Schlafmittel beschneiden. Es gibt keine Regeln, wer und unter welchen Bedingungen die Vorhaut teilweise oder ganz entfernen darf.

 «Ohne Narkose oder Betäubung ist es ein sehr schmerzhafter Eingriff», sagt die Chefärztin Kinderurologie Maya Horst Lüthy. Am Kinderspital Zürich werden deswegen Beschneidungen nicht vor dem ersten Lebensjahr vorgenommen und in der Regel unter Vollnarkose. Jugendliche können zwischen Vollnarkose und einer Lokalanästhesie wählen. Ähnliche wird dies am Ostschweizer Kinderspital gehandhabt.

Ebenfalls gibt es in der Schweiz keine Daten darüber, wie viele Beschneidungen aus rein medizinischen Gründen durchgeführt werden und wie viele davon religiös und kulturell motiviert sind. Am Kinderspital Zürich handelt es sich bei gut einem Fünftel um Wunschbeschneidungen.

«Wir raten grundsätzlich davon ab, einen Penis zu beschneiden, wenn kein medizinischer Grund vorliegt», nimmt der Chefarzt der Ostschweizer Kinderchirurgie Thomas Franz Krebs Stellung. «Doch falls dies die Eltern das aus religiösen Gründen trotzdem dringend wünschen, führen wir lieber eine Beschneidung mit Betäubung in sicherer und sauberer Umgebung durch, als dass diese irgendwo in einem Hinterhof stattfindet.»

Etliche Websites lassen vermuten, dass Beschneidungen ausserhalb kinderspezifischen Facheinrichtungen auch in der Schweiz häufig stattfinden. Etliche Expertinnen aus dem Bereich der Kindermedizin teilen diese Vermutung.

Beide Spezialisten lehnen eine präventive Beschneidung klar ab. Krebs fügt an: «Es gilt der Grundsatz, nur Operationen durchzuführen, die dem Patientenwohl dienen.»

Mögliche Risiken

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Es handle sich operationstechnisch um keinen komplexen Eingriff, hält der Chefarzt und Kinderchirurg Thomas Franz Krebs fest. Doch wie bei allen Eingriffen gibt es Risiken. Maya Horst Lüthy, Chefärztin und Kinderurologin des Kinderspitals Zürich betont, wie wichtig die Vorbereitungsgespräche seien. Sie erinnert sich an folgende Situation: «Eltern brachten ihr Kind an den Termin, in dem sie vorgaukelten, die Familie würde Verwandte besuchen.» Heute sei das zum Glück undenkbar – es gebe etliche Abklärungen und Beratung im Beisein des Kindes.

Nach einer Beschneidung kommt es bei etwa fünf Prozent der Fälle zu geringen Komplikationen, Spätfolgen sind dabei nicht berücksichtigt. Nach dem Eingriff kann es zu Nachblutungen, Schwellungen oder Infektionen kommen. Die Hautbrücken und Vernarbungen können Schmerzen und Taubheitsgefühle verursachen.

Da die Beschneidung per se ein sehr schmerzhafter Eingriff ist und dieser teilweise ohne Narkose gemacht wird, kann er zu langfristigen psychischen Beeinträchtigungen führen.

Abgesehen von Krankheiten könnten auch andere Faktoren den Entscheid für oder gegen den Eingriff beeinflussen. Sind beschnittene Penisse etwa hygienischer? «Es kommt auf die Intimpflege an», sagt Manuela Hunziker, Urologin, Universitätsspital Zürich.

Es ist wissenschaftlich nicht belegt, ob beschnittene Männer spätere oder gar bessere Orgasmen haben.
Autor: Manuela Hunziker Urologin

Eine regelmässige Reinigung genüge, um Ablagerungen und Infektionen zu verhindern. Im feuchten Klima unter der Vorhaut sammeln und vermehren sich Keime. Aber: «Das ist kein guter Grund für eine Beschneidung.» Die Haut habe auch wichtige Funktionen, wie der Schutz der Eichel vor Reibungen und Verletzungen.

Schutz vor Geschlechtskrankheiten?

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In Ländern mit mangelhaften sanitären Infrastrukturen empfiehlt die Weltgesundheitsorganisation WHO die männliche Beschneidung – als Hygienemassnahme sowie um die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten zu minimieren. Dabei bezieht sich die WHO auf in Afrika durchgeführte Studien, die aber nicht auf die Schweizer Verhältnisse übertragen werden können.

Untersuchungen in westlichen Ländern wie eine kanadische Studie oder ein umfassendes Review finden keinen Zusammenhang zwischen der Beschneidung und einem geringeren Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten. Teils litten aus nicht-medizinischen Gründen beschnittene Männer sogar häufiger an Feigwarzen oder Syphilis, wie eine umfangreiche Studie aus Dänemark zeigt.

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie hält in ihren Richtlinien klar fest, es sei ein unhaltbares Argument und solle nicht zur Behandlung miteinbezogen werden. Zuverlässigen Schutz bietet nur das Kondom.

Wenn die Vorhaut die Eichel nicht mehr schützt, büsst die Eichel an Empfindlichkeit ein. Auch deshalb kursiert das Gerücht, beschnittene Männer bräuchten länger, bis sie zu einem sexuellen Höhepunkt kommen. «Es ist wissenschaftlich nicht belegt, ob beschnittene Männer spätere oder gar bessere Orgasmen haben», so Hunziker.

Ob ihre Partnerinnen sexuell zufriedener sind, kann die existierende Literatur ebenfalls nicht klären. So ist in Studien zu lesen, dass Frauen beim Geschlechtsverkehr mit Männern, die beschnitten sind, mehr Schmerzen haben oder ihre Vagina trockener sei. Andere führen ins Feld, dass Frauen beschnittene Penisse ästhetischer fänden.

Das Thema wird wohl auch künftig die Gesellschaft beschäftigen, da es relevante Lebensbereiche des Menschen betrifft.

SRF 1, Puls, 23.01.2023, 21:05 Uhr

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